„Was ragt dort für ein Glockenhaus
Im Ring des Markts hervor?
Den Flug des Windes ein und aus
Hemmt weder Thür noch Thor.
Tritt Volkslust oder Schrecken ein,
Wann diese Glocke schallt?
Und was besagt das Bild von Stein
In hoher Roßgestalt?“
„Ihr seid der erste Fremdling nicht,
Der nach den Dingen fragt.
Was unsre Chronik davon spricht,
Sei willig Euch gesagt.
Des Undanks Rügenglocke
heißt Das edle Alterthum,
Und unsrer wackern Väter Geist
Umschwebt es noch mit Ruhm.
Undank war schon zu ihrer Zeit
Der schnöde Lohn der Welt:
Drum hat der Alten Biederkeit
Dies Schreckniß aufgestellt.
Wer jener Schlange Stich empfand,
Dem war die Macht verliehn,
Er konnte stracks mit eigner Hand
Die Rügeglocke ziehn.
Da kam, wenn’s auch bei Nacht geschah,
Die Obrigkeit herbei,
Und fragt‘ und forschte, hört‘ und sah,
Was hier zu schlichten sei.
Da galt nicht Rang, da galt nicht Gold,
Mocht’s Herr sein oder Knecht:
Die Richter sprachen, ohne Sold,
Für jeden gleiches Recht.
Es sind wohl hundert Jahre her,
Da lebte hier ein Mann,
Der durch geschäftigen Verkehr
Viel Hab und Gut gewann.
Von Reichthum zeugte seine Tracht,
Sein Keller und sein Herd;
Auch hielt er sich zur Lust und Pracht
Ein wunderschönes Pferd.
Einst ritt er in, der Dämmerung,
Da stürzten aus dem Hain,
Mit Mordgeschrei und Tigersprung,
Sechs Räuber auf ihn ein.
Sein Leben, um und um bedräut,
Hing nur an einem Haar.
Doch seines Rosses Schnelligkeit
Entriß ihn der Gefahr.
Es brachte, hoch mit Schaum bedeckt,
Ihn wundenfrei nach Haus.
Er breitete, zum Dank erweckt,
Des Pferdes Tugend aus.
Er that ein heiliges Gelübd’t
Mein Schimmel soll fortan
Den besten Hafer, den es gibt,
Bis an den Tod empfahn.
Allein das gute Thier ward krank,
Ward steif und lahm und blind,
Und den ihm angelobten Dank
Vergaß sein Herr geschwind.
Er bot es feil, und ward nicht roth,
Und jagt‘ es Knall und Fall,
Weil niemand einen Heller bot,
Mit Schlägen aus dem Stall.
Es harrte sieben Stunden lang,
Gesenkten Haupts, am Thor,
Und wonn ein Tritt im Hause klang,
So spitzt‘ es froh das Ohr.
Doch glänzte schon der Sterne Pracht,
Und niemand rief’s hinein,
Und es durchlief die kalte Nacht
Auf frostigem Gestein.
Und noch am andern Tage blieb
Der arme Gaul dort stehn,
Bis ihn des Hungers Stachel trieb,
Nach Nahrung fort zu gehn.
Die Sonne strahlte hell, doch ihn
Umhüllte Finsterniß,
Und er, der sonst geflügelt schien,
Ging sacht und ungewiß.
Er hob und schob vor jedem Tritt
Den rechten Fuß voran,
Und prüfte tastend, Schritt vor Schritt,
Die Sicherheit der Bahn.
Durch alle Gassen streifte so
Am Boden hin sein Mund,
Und ein verstreutes Hälmchen Stroh
War ihm ein werther Fund.
Schon von des Hungers wilder Macht
Verzehrt bis aufs Gebein,
Gerieth er einst um Mitternacht
Ins Glockenhaus hinein.
Er suchte gierig Sättigung,
Ergriff der Glocke Strang,
Und setzte nagend sie in Schwung,
Faß sie die Stadt durchklang. —
Den Richtern scholl der Ruf ins Ohr,
Sie kamen eilig an,
Und hoben ihre Händ‘ empor,
Als sie den Kläger sahn.
Sie kehrten nicht mit Scherz und Spott
Zurück in ihr Gemach;
Sie riefen staunend; Es war Gott
Der durch die Glocke sprach!
Und auf den Markt geladen ward
Der reiche Mann sofort.
Geweckt vom Boten, sprach er hart:
Ihr träumt! Was soll ich dort?
So ging er trotzig, doch er stand
Zur Demutb schnell bekehrt,
Als er den Kreis der Richter fand,
Und mitten drin sein Pferd.
„Kennt Ihr dies Wesen?“ — hob das Haupt
Der edeln Richter an.
„Des Lebens wärt Ihr längst beraubt,
Hätts nicht so brav getan
Und was ist seiner Tugend Lohn?
Ihr gebt´s, o Mann von Eis!
Dem Wettersturm, dem Bubenhohn,
Dem Hungertode Preis!
Die Rügenglocke hat getönt
Der Kläger stehet hier
Durch nichts wird Eure Tat beschönt,
Und so gebieten wird
Daß Ihr sogleich das treue Pferd
In Euern Hausstall führt
Und bis ans Ende pflegt und nährt
Wie Euch als Christ gebührt!“
Der Reiche sah nicht wenig scheel
Weil ihn der Spruch verdross
Doch fühlt‘ er seines Undanks Fehl
Und führte heim das Roß.
So meldet ehrlich, kurz und plan
Die Chronik den Verlauf
Und zum Gedächtnis stellte man
Nachher das Steinbild auf.“
Text: August Friedrich Langbein (1815)
in: Als der Großvater die Großmutter nahm (1885)