Liederlexikon: Roter Wedding
Musiker | 1929Die Maßnahme der unter rechter SPD-Führung stehenden Polizei, die der Berliner Arbeiterschaft am 1. Mai 1929 das Recht auf die Straße nehmen wollte und offensichtlich der Wegbereitung des Faschismus diente, zwang zur Gegenwehr. Der in die Geschichte des deutschen Proletariats eingegangene Blutmai 1929 war die Geburtsstunde der Agitprop-Truppe „Roter Wedding“; die Schüsse, die vom 1. bis 3. Mai durch die mit Barrikaden versehene Kösliner, Wiesen- und Weddinger Straße peitschtend, waren ernste mahnende Begleitmusik.
Das Truppenlied, von unserem unvergessenen Arbeiterdichter Erich Weinert auf unsere Bitte eigens für diesen Zweck verfaßt und von Hanns Eisler vertont, eroberte sich im Nu die Herzen des revolutionären Proletariats und wurde zum Kampflied weit über unsere Grenzen hinaus. Es erfüllte mich später mit stolzer Kampfeszuversicht, und ich erlebte ein anschauliches Beispiel proletarischen Internationalismus, als ich als KZ-Häftling in Auschwitz dem mir so vertrauten Lied in vielen mir fremden Sprachen begegnete.
Wer aber waren wir eigentlich, die wir uns veranlaßt fühlten, den Kampf gegen Ausbeutung, Faschismus und den damit drohenden Krieg zu mobilisieren? Junge Menschen aus dem Arbeiterbezirk Wedding; Lehrlinge, Jungarbeiter und Arbeitslose aus den Reihen des Kommunistischen Jugendverbandes, des Arbeitersportvereins „Fichte“ und der Freien Schwimmer Norden. Es lag uns daran, die Kampfkraft der Kommunistischen Partei, die sich als einzige mit aller Eindeutigkeit bei der Herstellung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse als Führerin erwies, zu stärken. Die Partei wurde unsere Heimat! Für ihre hohen Ziele uns einzusetzen, machten wir uns zur selbstverständlichen Pflicht.
Wer die Massen wachrütteln und ihnen den rechten Weg weisen will, muß selbst durchdrungen sein vom Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus. Unser politisches Fundament erarbeiteten wir uns in den Abendlehrgängen der vom Genossen Prof. Hermann Duncker geleiteten Marxistischen Arbeiterschule und gemeinsam in den vom „Rotes Sprachrohr“ durchgeführten 8- und 14-Tage-Schulen, wie auf den regelmäßigen Zusammenkünften des ATBD.
Es begann eine Zeit ernsten Studiums des wissenschaftlichen Sozialismus, weil uns immer deutlicher klar wurde, daß man nicht allein mit oberflächlichen und lediglich auf billigen Effekt berechneten Witzen die Massen von der Richtigkeit unserer Politik überzeugen und zur Aktivität gewinnen kann. Wir studierten nicht nur für uns, sondern auch für unser „Publikum“. Das sah so aus, daß wir uns z. B. mit der wissenschaftlichen Arbeit von Karl Marx „Lohn, Preis und Profit“ intensiv beschäftigten, um Klarheit zu erhalten über Ursache und Wesen der Ausbeutung und darüber, was getan werden muß, um diese zu beseitigen. Ähnlich gingen wir an Lenins Werk „Staat und Revolution. heran. Noch notwendiger erschien uns später das Vertrautmachen der ländlichen Bevölkerung mit dem Inhalt des von Ernst Thälmann proklamierten Bauernhilfsprogramms.
Dabei spielten wir keine Referate. Es genügte uns nicht allein, den Stoff bildhaft zu machen. Die lebendig gewordene Schilderung ihres eigenen kümmerlichen Daseins, der Verlogenheit und Hohlheit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zwang die Zuschauer, Stellung zu nehmen und Partei zu ergreifen für die gute, ihre eigene Sache. Wir ließen kein gemütliches Betrachten zu. Nach jeder Vorstellung — häufig sogar schon während des Spiels — sprangen wir von der Bühne herunter und veranlaßten die Zuschauer, Schlußfolgerungen zu ziehen: Wir warben Abonnenten für unser Zentralorgan, die „Rote Fahne“, für die „ATZ., die „Junge Garde“.
Es wurden Geldsammlungen für im Streik stehende Arbeiter durchgeführt, Solidaritätslisten der Roten Hilfe und der Internationalen Arbeiterhilfe gingen von Hand zu Hand; Kirchenaustrittserklärungen wurden abgegeben, Beitritte zu den proletarischen Massenorganisationen vorgenommen und — von uns mit besonderer Genugtuung verzeichnet — Aufnahmen in die Partei der Arbeiterklasse, unsere KPD, vollzogen. Den Wert unseres Spiels maßen wir nicht am Beifall, sondern am Erfolg unserer stets mit den Auftritten verbundenen Werbungen.
Wo wir spielten, war uns gleich. Wir waren nicht wählerisch. War es einmal ein großer Festsaal, ein Theater, Kino oder dergleichen, so kam es vor, daß der nächste Auftritt auf einem öffentlichen Platz, auf Hinterhöfen der Mietskasernen, in Freibädern, Laubenkolonien, vor Fabriktoren oder Stempelstellen erfolgte. Wer nicht zu uns kam, zu dem gingen wir. Sogar des Morgens mit den ersten Arbeiterzügen nach Siemensstadt und Borsigwalde fuhren wir, um den noch in Arbeit stehenden Kollegen die Auswirkungen der Notverordnungspolitik vor Augen zu führen. Unser Hauptbestreben war, überall und möglichst aktuell dabeizusein und unmittelbar die Menschen zu Aktionen zu veranlassen.
Kundgebungen und Demonstrationen wurden durch uns belebt und erhielten das rechte Gepräge.
Zahlreiche handgreifliche Auseinandersetzungen mit der Polizei — der Knüppelgarde der damals herrschenden Klasse — ließen uns erkennen, daß wir auf dem richtigen Wege waren: Je mehr wir uns in die Herzen unserer Klassengenossen spielten, desto grimmiger und brutaler setzten die Verfolgungen der Polizei ein. Aber selten konnten sie uns hindern, den Sammelruf ertönen zu lassen.
Auf dem Fichte-Sportplatz in Reinickendorf, am Schäfers, war es, im Jahre 1932: Unsere Pionier-Agitprop-Truppe „Roter Wedding“ zeigte ihr gefälliges, kindgemäßes Programm „Zirkus Republikapo“. Die Tausende waren von unserer Nachwuchstruppe begeistert. Unverkennbar war unsere Absicht, mit Spott und Groteske die „Segnungen“ der Weimarer Republik als Vorspann des Faschismus der Lächerlichkeit auszusetzen. Da plötzlich waren zwei große Mannschaftswagen — sogenannte „Flitz, — auf dem Sportplatz, und ein Polizeioffizier stand in der improvisierten Manege. Gebieterisch verlangte er von mir, der ich als zylinderbefrackter Zirkusdirektor den Programmablauf lenkte, die sofortige Beendigung der Vorstellung. Wie indessen reagierte unser Publikum? Tausendfaches Gelächter begrüßte den „neuen Clown“. Seine Armbewegungen wurden immer müder, bis er und seine Mannen von harten Arbeiterfäusten auf die vordersten, extra für sie frei gemachten Bänke gedrückt wurden und unsere Pioniere sie freundlich aufforderten, der Vorstellung kostenlos bis zu Ende beizuwohnen. Sie blieben. Aber man spürte ihr Unbehagen, als Heinz, unser kleinster Athlet, der als „Kettenspringer“ auftrat, ihnen zurief: „Wenn ihr schon Angst vor uns habt, wie müßt ihr erst unsere Väter fürchten!“
Hans Spicker, in: Lieder der Agitprop-Truppen vor 1945
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