Liederlexikon: Papa Gerné
Musiker | 1970Jean-Pierre Gerné , genannt Papa Gerné , ( sprich Guerné, wie auch andere aus Gebenhausen stammende Familien ihren Namen wiedergeben, während andere wieder Gernet , Gerner schreiben) war ein lothringischer Volksliedersänger, der von 1831—1923 lebte. Louis Pinck , der Herausgeber von Verklingende Weisen schreibt 1926 über ihn:
Ich lernte diesen lothringischen Volksliedersänger zufällig in der Hambacher Kirche kennen. Es war an einem Freitag-Nachmittag, im Herbst 1914. Da sah ich einen alten Mann in grauer Bluse von Station zu Station geben und hörte ihn ein ganz eigenartiges Lied singen. Ich ging zu ihm und bat ihn, nachher in meine Wohnung kommen zu wollen. Da erfuhr ich nun, dass er aus Gebenbausen sei und nach Hambach gehommen war, um nach seinen Enkelkindern zu schauen, da ihr Vater, sein Sohn, im Kriege war.
Nachdem ich ihm das Stationenlied nachgeschrieben hatte, fragte ich den fast 84Jährigen Mann, ob er auch noch andere alte Lieder wisse. „O, ja,“ sagte er, „als ich jung war, wollte ich einmal auf der Weide meine Lieder zählen. Da kam ich auf 273 und dann war ich verwirrt. Und als ich ein kleiner Weidbub war von sieben, acht Jahren, da kam einmal der Herr Pastor Keller von Wustweiler an uns vorbei und hat mir zwei Sous gegeben, weil ich so schön singen konnte. Ob ich aber jetzt noch viele weiss, kann ich nicht sagen, denn wenn man alt ist, singt man nicht mehr so wie früher und vergisst auch gar viel.“
Gerne hätte ich mich noch länger mit ihm unterhalten, aber er wollte unbedingt noch an demselben Abend wieder zu Fuss heim nach dem 10 Kilometer entfernten Gebenhausen. Deshalb hatte er ja auch schon seinen Stationenweg in Hambach gemacht, weil es ihm dafür in Gebenhausen zu spät geworden wäre und er doch jeden Freitag die Stationen gerne in der Kirche so hielt, wie es ihn seine Mutter gelehrt und wie er sie schon als Junge in der Kapelle von Gebenbausen vorgesungen hatte.
Immerhin versprach mir der gute Alte, noch öfter zu kommen, und er hielt auch treulich Wort. Recht oft machte er den Weg von Gebenhausen nach Hambach an einem und demselben Tag zu Fuss hin und her, bis er dann während des Krieges ganz in Hambach blieb, tagsüber bei mir und des Nachts im Häuschen seines Sohnes. Wenn er dann morgens kam, war er ganz froh, mir sagen zu können: “ Hint isch m´r noch e scheen alt Lied inkumm. Ich träm als devun.“ Bis zum 21. August 1918 hatten wir schließlich noch 164 Lieder von ihm aufgenommen, manche allerdings nur mehr als Bruchstücke. […]
Von seinem Vater selbst, der ebenfalls Jean-Pierre hiess, konnte er keine Lieder lernen, da er selbst nicht sang, obschon er gerne Lieder singen hörte. Seine Grossmutter väterlicherseits war schon sangesfroher. Denn bei der Aufnahme des Liedes: „Jetzt geh ich ans Brünnlein, trink aber nit“ erzählte Papa Gerné: „Das hat min Grossel g´sung noch acht Tag vor ihrem End — un sie war 100 Jahr, 3 Monat un 7 Da alt, wie se g´storb isch. Do han ich min Mutter geruf: Horche emaol, die Grossel singt! Jo, hat se g´sat, die kann ihre herztausischte Schatz suche gehn.“ Seine eigentliche Lehrmeisterin war seine Mutter, eine geborene Chivo. Die lehrte ihn beten und singen, lesen und schreiben.
In die Schule ging er nicht, da man nicht hinein brauchte und diese in Püttlingen war. Ihre kleinen Andachten hielten sie für sich In der Dorfkapelle zu Gebenhausen, wo Gerné, obscbon noch ganz jung, bereits Vorsänger war, Die Mutter war auf ihren „Schampierrle“, den Drittältesten, nicht wenig stolz und hielt ihn schon von früh an, ihre Lieder zu lernen. „Sie hat mich deck genung in der Schul g´hat. Sie hat gar Spass g´hat, dass ich so gut gelehrt hon. Do hat sie mich als mache singe, dass ich g´schwitzt hon.“ Mit sieben Jahren wusste er bereits das Lied vom „ewigen Jud“, wobei sie ihn mehrmals auf die Kniee setzte, bis es gut ging. Sie führte überhaupt ein strammes Regiment mit ihren acht Kindern, die ihr von zwölfen am Leben und gross zu ziehen blieben. Noch lange nicht jedes Lied durfte ihr im Hause gesungen werden, erst recht nicht während der Advents-und Fastenzeit. In dieser Zeit wurden keine Schätzelslieder gesungen, wohl aber wurde jeden Abend gemeinsam der Rosenkranz gebetet, und am Sonntag-Abend durfte keines fort, ohne dass es vorher ein Kapitel aus der „Glaubenswahrheit“ gelesen und den Rosenkranz hatte mitbeten helfen
Dass in diesem frommen Hause auch fröhlich gesungen wurde, braucht kaum gesagt zu werden, denn die Mutter hat nach Gerne´s Aussage die ganze Zeit gesungen, und wenn die anderen sie fragten, wie sie nur immer so singen könne, dann sagte sie: „Je grösser s´Läd isch, desto liewer sing ich. Dann vergesst m´r s Läd.“ Und Papa Gerné fügtte hinzu; „Es isch a wohr. Isch hon´s a schun prowiert.“ Vierundsiebenzig Jahre wurde sie alt und Papa Gerné noch älter, so dass beide sich in ihrem langen Leben wohl viel Leid mögen vom Herzen weggesungen haben.
Über Papa Gerné allein lässt sich noch vieles sagen. Soldat war er nicht, aber er wollte es doch werden. Indes, sein Vater hatte ihn nötig. Er half ihm junge Männer werben und mag wohl mit seinem Singen manchen angelockt und gewonnen haben. Sein Vater stellte ihm deshalb einen Mann für 850 Franken. Seine Geschwister waren aber darob auf ihn neidisch, so dass sich Gerné eines Tages selber dem Marchand d´hommes Deutsch in Falkenberg für 1350 Franken auf sieben Jahre verkaufte. Im „Buchstuhl“, wie sie in Püttlingen den gedeckten Wagen spottweise nannten, der dreimal in der Woche von Püttlingen nach Metz fuhr, gings dann von der Heimat weg und in Metz in die Diligence hinein nach Paris, und von da nach 10 Stunden Aufenthalt nach Beauvais . In Beauvais war der Hauptwerber, dem der Vater Gerné die Männer lieferte und bereits auch schon geschrieben hatte, er solle seinen Sohn nirgends anders einstellen als bei den Cuirassiers. Dazu hatte dieser aber die notige Taille nicht und wurde darum als zu schwach wieder heimgeschickt, Gerné meinte: „So hat m´r min Vater ene gespielt. Es hat n´awer Geld koscht. Er hat misse de Wä b´zable eruf und erunner. Das isch gewen im zweiefufzischte Johr“ (1852).
Mit dem 1870er Krieg hörte dies Maklergeschäft auf, und das Unglück wollte, dass Papa Gerné in diesem Krieg infolge misslicher Umstände sein ganz nettes Vermögen verlor. Er wurde dann Seidenweber und war, als ich ihn kennen lernte, Maulwurfsfänger. Trotz alledem blieb er immer der frohe Volksliedersänger.
Alle Arten von Liedern finden wir bei Papa Gerné vertreten. Er selbst unterschied zwischen „schönen Liedern“ und „Gassenliedern“, wobei der Begriff „Gassenlied“ aber durchaus nicht „garstig Lied“ besagen will, sondern nur Lieder bezeichnet, die die Burschen mit Vorliebe auf der Gasse, im Freien, gesungen haben. Die einzelnen Lieder benannte er: „Gäschtlich Lied“, „G´schicht“ (Ballade), „Räuwerlied“, „Schätzelslied“, „Rundelied“ (Reigenlied), „Soldatelied“, „ Jägerslied“, „Schäferslied“, „Hochzeitslied“, „Trinklied“, „Vexierlied“ usw.
Als der einzige von den alten Sängern, die ich hörte, wusste er auch ein französisches Lied:
A vot´ sant´, nous deux
A vot´ sant´, nous deux
A vot´ sant´, nous deux Monsieur,
A vot´ sant´, nous deux
A vot´ sant´, nous deux Monsieur
usw. bis douze.
Für das Lied: „Es reiten drei Seidenweber zum Tor hinaus“ hatte er sodann noch einen französischen Refrain: Vive l´amour!
Mehr Französisch barg sein grosser Liederschatz nicht. Auffallend ist, dass von den erwähnten alten Sängern auch keiner ein Napoleonslied wusste. Als ich bei Papa Gerné darnach forschte und ihm das Lied erwähnte: „Napoleon, du grosser Held“, gab er mir zur Antwort „Uewer so Lieder hon ich m´r ken Gedanke gemacht.“ Bei dem bekannten Liede: „Im Garten von Schönbronn“ kam er mit vieler Mühe auf die Melodie und die Worte der zweiten Strophe. Interessant war es, bei solchen Gelegenheiten festzustellen, dass es in der Regel die Melodie war, die dem Alten wieder auf die dem Gedächtnis entfallenen Worte verhalf. Ein Beweis für die Tatsache, dass die Volkslieder singend eingeprägt worden waren, so dass Wort und Weise unzertrennlich waren und das Singen eigentlich die Hauptsache war.
Bei vielen Liedern kam er aber gar nicht mehr auf die Spur. Sie waren seinem Gedächtnis entfallen. Die Quelle war leer geschöpft. Es müsste denn sein, was nicht ausgeschlossen ist, dass er es nicht für passend hielt, mir jedes Lied vorzusingen. Immerhin war es eine stattliche Zahl. Und wäre es unter den im Lande noch lebenden alten Volksliedersängern zu einem Wettstreit gekommen, wie damals in Ruhlingen bei den Jungen, Papa Gerné hätte wohl wieder die Wette gewonnen.
Was er früher bei Hochzeiten, im Wirtshaus oder sonst bei frohem Zusammensein gerne tat, jedem in der Runde ein passendes oder gewünschtes Lied zu singen, das war ihm auch noch eine Freude in seinen alten Tagen. Und dies machte er jedesmal recht feierlich, wenn eine kleine Corona in Hambach beisammen war. Etwas nachdenken, eine kleine Taktbewegung mit der Hand, und dann begann das Lied, das stellenweise mit Pantomime gesungen wurde. Im Lied vom Graf Backewill z. B. wurden die Worte „fort, fort, und pack dich nur gleich davon“ mit einer fortjagenden Handbewegung begleitet, und bei den Worten: „dazu ist mein kleiner Finger“ der kleine Finger gezeigt.
Alle hatten ihre Freude an dem guten Hirten und machten ihm auch gerne eine Freude, die einen, indem sie ihn „abkonterfeiten“, wie er selber das abfotographieren zu nennen pflegte, und die anderen, indem sie ihn mit einem lieben Wort oder einer lieben Gabe erfreuten. Besonders dankbar war er dem damaligen Bezirkspräsidenten Freiherrn von Gemmingen, der in der Kriegszeit, als er ohne Tabak war, in der liebenswürdigsten Weise dafür sorgte, dass ihm der Tabak für sein Pfeifchen nicht ausging. Denn sein Pfeifchen ging Ihm über alles.
Als Gerné in den letzten Tagen nicht mehr so sehr danach verlangte, da überkam ihn und seine Umgebung Todesahnen. Nach kaum zweitägigem Kranksein entschlief er in seinem 93. Lebensjahr, wohl vorbereitet und sanft im Herrn am Dienstag, den 9. Januar 1923, gleich nach Mitternacht zu Freimengen bei seiner Tochter, einer Bergmannsfrau. Zwei Tage später haben wir ihn dann nach einem feierlichen Totenamt in Gebenbausen in seine liebe Heimaterde, wie er es immer gewünscht hatte, zu seinen Eltern und seiner Gattin (Margaretha Thirion) ins Grab gebettet. Von seinen zwölf Kindern standen noch fünf überlebende am offenen Grabe. Möge er nun in Frieden ruhen, dieser gute, alte, heimattreue Volksliedersänger, und mögen, so wie er, sich noch viele recht lange seiner Lieder erfreuen !
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