Liederlexikon: Lebensrute

| 1908

Die erste ursprüngliche Gestaltung des Brauchs mit der Lebensrute zu schlagen ist diese: Frauen und weibliches Hausvieh (vor allem Kühe und Stuten) wurden zu bestimmten Jahreszeiten mit einer grünen Rute oder Gerte (Lebensrute) gewisser Bäume geschlagen oder gepeitscht, um fruchtbar zu werden. Was sah der Naturmensch in diesem Symbol? Für ihn war die Gerte, die Lebensrute das Zeugungsglied des Baumdämons,  dessen Schlag auf den Geschlechtsteil der Ehefrauen — denn an diese allein ist zunächt zu denken — fruchtbar machte. — Gerte, Stab, Stock, Spieß sind uralte Symbole für das männliche Zeugungsglied, wie wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen  sehen werden

Die schlagenden Männer selbst gelten als Dämonen der Bäume, deren Gerten sie tragen. Das ist offenbar die älteste Bedeutung dieses weitverzweigten Brauchs des Schlagens mit der Lebensrute. Der Brauch geht in die arische Zeit unseres Volkstums zurück. Bei den Römern finden wir eine deutliche Ähnlichkeit in dem alten und altertümlichem Fest der Lupercalia am 15. Februar. Die Luperci, die jungen Diener des Faunus, hüllten sich nach dem Festmahle in die Felle der geopferten Böcke und liefen in toller Ausgelassenheit durch die Stadt. Die Frauen stellten sich ihnen in den Weg und wurden von ihnen mit den Riemen, die aus den Fellen der Böcke geschnitten waren, geschlagen, um fruchtbar zu werden. Hier gilt also der Bock als das Tier des befruchtenden Triebes, und die in seine Felle gekleideten Jünglinge vertreten den Bock selbst; der Riemen ist das Zeugungsglied des Bockes selbst, das ursprünglich die Vulva der Frauen schlug; denn allerlei Ausgelassenheiten fanden noch bis in die späteren Zeiten statt, man suchte vor allem die Frauen auf ihre verborgenen Teile zu peitschen. Das ist ein uralter Zug, der auch im germanischen Brauche nicht fehlt. Man kann ihn noch deutlich als den ältesten nachweisen.

Die Frauen sind das empfangende, fruchttragende Prinzip, sie werden mit der zeugenden befruchtenden Gerte auf ihren Geschlechtsteil geschlagen. Man vergleiche die Benennungen dieses Brauches im Niederdeutschen (Hannöverschen): fuen, fudeln, futteln, foden; es sind denominativa zu Fud (Fotze), bezeichnen also: an die Fotze rühren, fassen, schlagen. Das Lösegeld, das die Frauen zahlen mußten, hieß Fudelgeld, so im Bückeburgischen (vgl. Landau i. Archiv für Hess. Gesch. II 278). Ebenso den Ausdruck „Kindeln“, der zugleich auf den 28. Dez., den Tag der Unschuldigen Kindlein, an dem man mit den Ruten schlug, hinweist.

Man vergleiche ferner die Polizeiverordnung in der Herrschaft Lauenstein (1599), die das unzüchtige Kindeln verbietet: „da die großen, starken Knecht den Leuten in die Heusser laufen, die Mägde und Weiber entblößen und mit Gerten oder Ruten hauen“. Im Kassubenlande hob man noch 185o den Frauen die Röcke hoch und peitschte sie auf den bloßen Leib. In vielen Gegenden Deutschlands peitscht man an den Kindeltagen noch heute mit der Lebensrute Mägde aus den Betten, also wenn, sie nackt sind.

Auch Mantuanus, der Carmelitergeneral Spagnoli ( gestorben 1518), berichtet in seinem Festkalender den italienischen Festesbrauch. zu seiner Zeit, daß die verborgenen Körperteile (membra recondita) geschlagen wurden. Tilemann bekundet, daß man den Weibern den Hintern entblößte und ihn mit Ruten strich.
(Tilemanni commentatio histor. moralis von dem Recht der nackigten Häupter, Brüste, Bäuche, Schaam und Füße Cap. III § 2: mulieres sibi obviam factas inhonesto joco interdum denudatis posteriolms virgis vel etiam herba aliqua pungente feriunt tempore quadragesimali im Fastnacht.) —

Zuletzt verweise ich auf den analogen Brauch bei den Tieren: man peitscht die Tiere, besonders die Kühe mit der Lebensgerte der Eberesche auf Hüfte, Kreuz und Euter, also auf die Fruchtbarkeits- und Geschlechtsgegend (Iserlohn in Westfalen). — Erst in späterer Zeit schlug man auf andere Körperteile, auf die Schenkel, die Waden, den Rücken (bei diesen Teilen ist eine erotische Anspielung noch erkennbar), auf die Füße, die Knöchel, die Hände, die Finger.

Die Namen des Brauchs sind mannigfaltige. Am deutlichsten reden die Benennungen: „fuön“, „fuden“, „fudeln“, „futteln“ (von vut, vud = muliebria) und „kindeln“ (— Kinder machen), „quitzen“ (in; Mecklenburgischen, vgl. (quiken = kräftig, lebendig machen, erquicken), „dengeln“ (— hämmern, noch heute als erotisches Wort = coire, begatten gebräuchlich). Andere Namen sind: „peitschen“. (Böhmen), „aufhauen“, „aufpeitschen“ (Voigtland), „fitzeln“ (Bayern: Hof = mit Ruten streichen), „stäupen“, „stiepen“ (Altmark, Neumark, Uckermark) „pfeffern“ (der Name rührt vom Pfefferkuchen, dem Lösegeld der Gepfefferten her; andererseits ist der Ausdruck noch heute = coire gebräuchlich), „schmackostern“, „schmakustern“ (Schlesien, Posen, Oberhessen; aus dem Polnischen smigust, vom Volke in „Schmecke Ostern“ umgedeutet).

Die Tage und Zeiten des Fudelns mit der Lebensrute sind allesamt solche, da die Natur sich aus dem Winterschlafe wieder erhebt. Es sind die Tage der Liebe, des Lichts, der Paarung, der Empfängnis künftiger Kinder-und Erntesegens. Von der Wintersonnenwende bis zur Sommersonnenwende spannen sich die Grenzen, von Weihnachten bis Johanni. Die Fudeltage sind Weihnachten, der Tag der Unschuldigen Kindlein (28. Dez., ein Tag, der in späterer Zeit lediglich des kirchlichen Namens wegen gewählt wurde, man sieht deutlich den Bezug auf die Kinder), Neujahr, Mariä Lichtmeß (2. Febr.), Fastnacht (bes. in Niedersachsen), Palmarum, Ostern, Walpurgistag (1. Mai), Himmelfahrt, Pfingsten, Johannitag. In den slavischen und später deutsch gewordenen Gegenden ist Ostern das Fest des Schlagens mit der Lebensrute.

Was die Gerte anlangt, so ist festzuhalten, daß sie ursprünglich nur eine einzige gewesen ist, mit der der Mann fudelte. Sie konnte bisweilen durch einen Stab (vgl. Mannsstab, Penis) oder durch einen Knüttel vertreten werden. Wie der Riemen der Lupercalien ein Bild des Bocksgliedes war, so die Gerte, die Rute, der Stab für den Penis des Dämons. Die Benennungen „Rute“, „Gerte“ (ahd. garte) für das männliche Zeugungsglied sind uralt (vgl. die „Gartenkräuter“ in der Botanik), auch bei den Römern hieß virga die Rute, der penis; ein anderer Namen ist hasta (eigentl. Spieß). Später erst band man verschiedene Gerten zu Bündeln und stäupte mit ihnen. —

Die Lebensgerten sind von jenen Bäumen und Sträuchern geschnitten, die eine erotische Beziehung zum Kindersegen haben: Haselstrauch, Eberesche (die mit ihren roten Haufbeeren auf ein Nest voll Kinder deutet), Hollunder (als Entbindungsbaum der Frau Holle), dann Birke, Weide (als früh sprossende Frühlingsbäume). Zuletzt jene immergrünen, das unvergängliche Leben darstellenden Sträucher: Buchsbaum, Stechpalme, Wachholder, Rosmarin, selbst der Sevebaum. — Abartungen sind es, wenn man mit Nesseln oder mit Blumensträußen peitscht.

Erst in relativ später Zeit schlugen auch die Frauen auf die Männer. Es wird ihnen ein eigener Tag (dritter Weihnachtstag, Neujahrstag usw.) nach dem Tage der Männer eingeräumt. Das geschah in Unkenntnis der ursprünglichen Bedeutung des alten Brauches. Er wurde aus Scherz und Spaß nur noch um des Geschenkes willen ausgeübt, die Geschlagenen mußten sich mit Geld, Eiern, Äpfeln, Nüssen, Kuchen usw. auslösen. So lautet ein Mädchenspruch aus der Gegend von Sonnenberg:

Ich pfeffer einen schönen Herrn
Ich weiß er hat das Pfeffern (die Jungfern) gern
Ich pfeffer ihn aus Herzensgrund.
Gott erhalte den schönen Herrn gesund

Es klingt aber bei diesem entstellten Brauche das Stäupen der Frauen als die Hauptsache durch. Übrigens erwähnt schon um 116o  Joh. Beleth in seinem rationale divinorum officiorum den Brauch, daß  Männer und Frauen sich wechselseitig schlagen. Und nach Schmeller (I. 422) ist bereits im achten Jahrhundert diese erotische Heidensitte, das Weib mit der Lebensgerte aufzukindeln, bezeugt.

Von dieser Sitte, im Frühling die Frauen mit der Lebensrute zu kindeln, ist eine andere nicht zu trennen: das Hochzeitspaar zu fitzeln. In der Oberpfalz treibt der Hochzeitslader die Braut mit einem Birkenrütlein unter beständigem Schlagen zur Kirche. Bei den Katholiken des polnischen Ermlandes treibt man die Braut mit einem fichtenen Stock gewissermassen ins Hochzeitsbett. Die lettischen Sudauer im westlichen Samlande trieben die 13raut ins Hochzeitsbett und schlugen sie (um 1526). Bei den Litauern peitschte der Führer des Brautwagens die  Braut in das Schlafgemach (um 169o)

Und noch jetzt, 1908, las ich von einer Sitte im Dorfe Tunxdorf hei Papenburg, Provinz Brandenburg, die sich auf diesen uralten Brauch bezieht: am ersten Sonntag im Mai versammeln sich die jungen Mädchen der nächsten Häuser, wo sich eine junge, eben verheiratete Frau befindet. Diese muß durch das Spalier der Mädchen schreiten und bekommt von jedem Mädchen einen leichten Schlag mit einem grünen Zweig. Nach dieser Zeremonie muß sich die junge Frau mit einem Geldgeschenk loskaufen. — Man fitzelt oder kindelt die junge Ehefrau (in späterer Zeit auch den Ehemann), daß sie Segen und Kinder in der Ehe erhalte.

Der Brauch, die Frauen mit der Lebensrute zu schlagen, läßt sich in ganz Deutschland, Schweden, Österreich, Polen, Rußland, verblaßt auch in England, Frankreich,. Belgien, nachweisen. Ja, er enthält Vorstellungen, die jedem Naturmenschen in gewissem Grade eigentümlich gewesen sein müßten. In Neukalifornien wird das mannbar gewordene Mädchen in die Erde gegraben und mit Ruten geschlagen. Das Mädchen soll fruchtbar gemacht werden und der großen Mutter Erde gleichen. In Mexiko liefen die Priester beim Feste der großen Lebensmutter Ilmateuctli durch die Gassen und schlugen alle ihnen begegnenden Weiber mit Heubündeln.
Auch auf Bäume und Tiere, besonders weibliches Hausvieh wie Kühe und Stuten, ist der Brauch, mit der Lebensrute zu schlagen, übertragen worden. Man will sie in erster Linie fruchtbar, dann aber gesund machen und vor Verwundungen schützen. Unter den Bäumen ist es besonders der Apfelbaum, also ein Baum des weiblichen Prinzips, den man mit der Lebensgerte befitzelte. —Selbst in diesen Übertragungen schimmert noch deutlich hervor, daß die Lebensgerte zunächst nur das empfangende, fruchttragende, weibliche Prinzip befruchten sollte.

in Volkserotik und Pflanzenwelt (1908, Dr. Aigremont)

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