Ich saß und spann vor meiner Tür
Da kam ein junger Mann gegangen
Sein braunes Auge lachte mir
Und röter glühten seine Wangen
Ich sah vom Rocken auf und sann
Und saß verschämt und spann und spann.
Gar freundlich bot er guten Tag
Und trat mit holder Scheu mir näher.
Mir ward so angst; der Faden brach;
Das Herz im Busen schlug mir höher.
Betroffen dreht‘ ich wieder an
Und saß verschämt und spann und spann.
Liebkosend drückt‘ er mir die Hand
Und schwur, daß keine Hand ihr gleiche
Die schönste nicht im ganzen Land
An Schwanenweiß, an Rund‘ und Weiche
Wie sehr dies Lob mein Herz gewann!
Ich saß verschämt und spann und spann.
Auf meinen Stuhl lehnt’er den Arm
Und rühmte sehr das feine Fädchen
Sein naher Mund, so rot und warm
Wie zärtlich haucht‘ er: Süßes Mädchen!
Wie blickte mich sein Auge an!
Ich saß verschämt und spann und spann.
Indeß an meiner Wange her
Sein schönes Angesicht sich bückte,
Begegnet‘ ihm von ohngefähr
Mein Haupt, das sanft im Spinnen nickte;
Da küßte mich der schöne Mann
Ich saß verschämt und spann und spann.
Mit großem Ernst verwies ich’s ihm;
Doch ward er kühner stets und freier
Umarmte mich mit Ungestüm
Und küßte mich so rot wie Feuer
0, sagt mir, Schwestern, sagt mir an:
War’s möglich, daß ich weiter spann?
Text: Johann Heinrich Voß (1791)
Musik: a) Komponist unbekannt – b) Mel. von August Harder 1803