Zur Volkskunde der Großstadt

Über Herbergssprüche im NS-Staat

O. A. Erich (Potsdam) (in: Geistige Arbeit, Bände 6 – 7, Nr. 10. 20. Mai 1940)

Von nicht geringerem Reiz für den Volksliedforscher als die bisher angeführten, die auf der Ebene der Gelegenheitsgedichte liegen, sind die folgenden-. Sie erinnern in ihrer Formelhaftigkeit an die typischen Wendungen und Wanderstrophen des Volksliedes. Dazu kommen die lautlichen Analogien, die an bekannte Lieder und besonders an aktuelle Schlager anklingen.

Was beim Volkslied „zersungen“ ist, das ist in der Großstadt meist bewusst parodiert, es ist darum nicht minder echtes Volkstum, das Beachtung und Sammlung verdient. Zunächst die Formel z B

Det ick hierjewesen
Det kann jeder lesen
Und wer det jelesen
Der is och hier jewesen

oder

Ich und wir sind hier gewesen
Das kann ein jeder lesen
Wer es liest ist auch hier gewesen

Dazu am Rande

Ich hab gelesen Ich hab gelesen
Dass ein Esel ist hier gewesen

Hierzu sei die bekannte Gasthauseintragung vom Kuhstall bei Dresden erwähnt:

Ich hab es gesehn ich hab es gelesen
Es ist ein Ochse im Kuhstall gewesen

Die Fortschreibung dessen, was ein anderer anfing, ist typisch z. B.

Trotz Erkennung unserer politischen Einstellung
Fanden wir Chemnitzer Roten Naturfreunde
Hir 2 Tage eine immer sorgende Herbergsmutter
Und sprechen hirmit unsern herzl Dank aus

Dazu am Rande

Diese Schreibfehler sehen der roten Einheitsfront so recht ähnlich. Heil Hitler!

Auch das bürgerliche Poesiealbum kennt diese Bezugnahme auf die anderen Schreiber im gleichen Buche in dem beliebten Spruch auf der letzten Seite

Wer Dich noch lieber hat als ich
Der schreibe sich noch hinter mich

Endlich die Benutzung des allgemein Bekannten als Vehikel für den eigenen Gedanken (Jugend Herberge Wittenberg):

Eine Radfahrt die ist lustig
Eine Radfahrt die ist fein
Ganz besonders wenn wir dürfen
Gast bei Mutter Petzold sein
(Eine Seefahrt die ist lustig)

oder

Verachte mir den Kunden nicht
Den Menschen ohne Bleibe
denn wer sich so durchs Leben schlägt
Hat Energie im Leibe
(Verachtet mir die Meister nicht)

oder

Wer nie sein Brot vom Boden fraß
Wer nie die eisigkalten Nächte
In seiner Koje zitternd saß
Der kennt euch nicht ihr Herbergsnächte
(Wer nie sein Brot mit Tränen aß)

Hab Sonne im Herzen darf natürlich nicht fehlen:

Hab Sonne im Herzen
Und Butter aufs Brot
Und Geld zum Bezahlen
Dann hats keine Not

Von Kritiken eine erträgliche:

Ich kann mich stundenlang ergötzen
wie hier in leichten und schweren Sätzen
Müller und Schulze ihrem Dank Ausdruck verleihn

Noch ein Wort über die Zeichnungen der Herbergsbücher: Auch bei ihnen sind zwei Gruppen festzustellen, die fidelen Gelegenheitsbilder, meist Selbstironisierungen und die typisierten, oft romantisch sentimentalen, wie Sonnenuntergang oder Silhouette der Heimat. Auch in der zweiten Gruppe gibt es nette Einfälle. Ein Potsdamer, der noch ein Fünfmarkstück besitzt, reibt mit dem umgekehrten Bleistift die Garnisonkirche aufs Papier durch, ein Münchner zeichnet das Münchner Kindl und ein Senftenberger ein Sonnebrikett als Signet seiner Heimatstadt.

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