Zur Volkskunde der Großstadt

Über Herbergssprüche im NS-Staat

O. A. Erich (Potsdam) (in: Geistige Arbeit, Bände 6 – 7, Nr. 10. 20. Mai 1940)

Wer einmal die Volkskunde der Großstadt schreibt, der wird sich mit der gleichen Frage auseinanderzusetzen haben, wie der Volksliedforscher: Wann und wie gelangt das Volk dazu, seine Gedanken in Reim oder Prosa so zu äußern, dass von bewusstem Gestalten oder wenigstens Formulieren gesprochen werden kann?  Das Volkslied, eng an seine Melodie gebunden, ist seit langem ein verwöhntes Lieblingskind der Forschung, was aber sonst an Gereimtem und Ungereimtem im Volke Gestalt gewinnt, ist vorläufig noch recht stiefmütterlich behandelt, wo nicht völlig übersehen worden.

Und doch verdienen die zahlreichen, meist kurzen Gelegenheitsgedichte und Prosastücke die Aufmerksamkeit, die jeder Äußerung des Volkes – hier im Gegensatz zum zünftigen Dichter – zukommt, denn sie sind gerade in ihrer Unbefangenheit ein Ausschnitt aus der „Gesittung“ (Kultur) der Zeit. Die romantische Anschauung von der dichtenden Seele des Volkes muss dabei allerdings verlassen werden, wie sie auch von der Volksliedforschung nicht hat gehalten werden können.

Weniger kämpferisch als der wesentlich musikalisch gebundene Schnadahüpfl unserer Alpenländer gibt sich die Großstadtdichtung als ein Sich-tragen-lassen von dem munteren Bächlein der Gelegenheit oder von breiten Strom der Analogien, daher denn auch eine entschiedene Neigung zur Parodie. Wo aber findet sich derartiges wirklich in greifbarer Form?  — Eine großangelegte Sammlung von Erlauschtem, wie in der Volksliedforschung das Freiburger Archiv, würde hier nicht zum Ziele führen, denn diese Dinge werden gar nicht gesprochen oder gesungen sondern niedergeschrieben, so dass regelrechte Quellenkunde getrieben werden kann.

In den Gästebüchern der deutschen Jugendherbergen ist diese Fülle ausgebreitet, eine wahre Fundgrube für den Forscher, der offene Sinne für das volkstümlich Echte hat, auch wenn es nicht auf Ackerboden, sondern auf Straßenpflaster gewachsen ist.

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