Vorwort: Schwäbische Volkslieder (1855)

Ernst Meier (in: Schwäbische Volkslieder (1855))

Die vorliegende Sammlung schwäbischer Volkslieder bildet den Schlußstein einer Reihe früherer Arbeiten, welche es sich zur Aufgabe gemacht hatten, alle schwäbischen Volksüberlieferungen an Märchen, Sagen, Sitten,  Kinderreimen und dergleichen dem Untergange zu entziehen und bereits in drei Sammlungen gedruckt vorliegen. [efn_note] Deutsche Kinder-Reime und»Kinder-Spiele aus Schwaben aus de Volksmunde gesammelt, 1851. -—— Deutsche Volksmärchen aus Schwaben, 1852. —- Deutsche Sagen, Sitten und Gebräüche aus Schwaben, 2 Bände. 1852.[/efn_note]

Wie die »Kinderreime und Kinderspiele« das bunte poetische Leben und Treiben der Kinderwelt darstellen, so sollten die Volkslieder den ganzen poetischen Liederschatz des schwäbischen Volkes enthalten. Ich habe dabei den Begriff des Volksliedes strenger gefaßt, als wie dies gewöhnlich geschieht, und nur solche Lieder aufgenommen, die wirklich aus dem Volke hervorgegangen sind und durch längere Überlieferung bis heute sich erhalten haben. Sie können daher als Ausdruck der jetzt herrschenden poetischen Volksstimmung angesehen werden und sind leicht erkennbar an der kunstlosen, naturwahren, einfachen Sprache.

Ausgeschloßen sind dagegen alle Kunstdichtungen bekannter gebildeter Dichter, die etwa beim Volke Eingang. gefunden, und die man oft noch — obwohl mit Unrecht — in Volkslieder-Sammlungen mit aufnimmt. Dabei sei hier nur kurz eines ziemlich Verbreiteten Irrthums gedacht, als ob diese Lieder jemals von der Gesamtheit des Volkes gedichtet worden seien. Es gilt dies von allen Volks- und Naturpoesien so gut wie von jeder Kunstdichtung.
Das kleinste wie das größte Lied ist immer das Produkt einer einzelnen, poetisch begabten Person. Der wahre Volksdichter gehört aber seiner ganzen Bildungs- und Anschauungsweise nach dem Volke an; er singt und sagt nur das, was die Gesamtheit leicht faßt und was ihr gefällt; was ihr nicht gefällt und keinen Beifall findet, darf der Sänger nicht wieder singen; es verhallt und findet keinen Boden. Trifft er aber glücklich den Ton und die
Stimmung, in der die Gesamtheit ihr eigenes Wesen ausgesprochen fühlt, so bewahren tausend Herzen seine Worte und singen sie nach. Wo nun aber in einem solchen Liede etwa ein Ausdruck, eine Wendung, ein Bild nicht ganz glücklich und allgemein verständlich gewählt ist, da ändert das Volk von selbst und macht überhaupt sich
alles mundrecht. Auf die Art arbeitet allerdings die Gesamtheit an den Volksliedern mit, und dies befördert nicht wenig den objektiven, naturtreuen Charakter aller Volkspoesie, wie er einem einzelnen Individuum unerreichbar scheint.

Sehr lehrreich ist es in dieser Hinsicht zu vergleichen, wie das Volk die Lieder bekannter Kunstdichter zustutzt, verändert und gewissermaßen naturalisiert, ohne daß deshalb doch wirkliche Volkslieder daraus werden.
Die hier mitgetheilten Lieder und Balladen sind sämtlich unmittelbar dem Volksmunde entnommen. Von einigen 30 habe ich auch die Melodien aufgezeichnet und zwar genau in der Weise, wie das Volk sie singt. Ich muß dies ausdrücklich bemerken, weil mehre schwäbische Volksmelodien, die durch den Druck bereits weit verbreitet sind, nicht ganz zu der wirklichen Volksweise stimmen und sichtbar eine nachbessernde Hand verraten. So schonend
und geschickt die Hand auch gewesen, so lag mir doch alles daran, die Melodien gerade so zu geben, wie das Volk sie wirklich singt. — Diese Liederweisen bilden übrigens eine fast notwendige Ergänzung der Worte und sind häufig weit älter, als die im Lauf der Zeiten leicht wechselnden Texte.

Was den Inhalt betrifft, so habe ich im Allgemeinen nur solche Stücke ausgenommen, die an sich poetischen Werth haben, oder doch eine Volkseigentümlichkeit charakteristisch ausdrücken und schon längere Zeit vom Volke gesungen worden sind. Eine passende Anordnung der Lieder war schwer; indes habe ich das reiche Material unter folgende sieben Rubriken zu Verteilen gesucht:

  1. Tanz- und Jodellieder, sogenannte «Schelmeliedle« oder Schnaderhüpfeln. Dieser Abschnitt enthält über 400 kurze Strophen von der Art, wie sie das Volk noch fortwährend bei jeder Gelegenheit improvisiert. Es sind frische, kecke Naturlaute, meist in schwäbischer Mundart, oft rauh und roh in der Form, aber voll des mannigfaltigsten und ergötzlichsten Inhaltes
  2. Frühlings- und Liebeslieder
  3. Ehestandslieder
  4. Handwerkslieder, meist humoristisch beschreibende oder auch neckende Lieder auf einzelne Stände und Handwerke
  5. Soldaten und Kriegslieder. Diese gehören einem großen Teile nach den letzten Freiheitskriegen an und beziehen sich namentlich auf die verhängnisvollen Jahre 1812 — 1815. Hiermit habe ich die wenigen historischen Lieder, die im Volke noch leben, verbunden, z. B. ein Lied auf Friedrich den Großen und auf Joseph II. Sonst ist das schwäbische Volk äußerst arm an historischen Liedern wie an historischen Sagen, trotzdem, daß doch bedeutende Ereignisse auf schwäbischem Boden vorgekommen sind. Das historische Volkslied ist weit mehr in Norddeutschland heimisch. Im Süden hat nur die Schweiz schöne Schätze der Art.
  6. Vermischte Lieder und Volkssprüche. Dieser Abschnitt enthält ein buntes Mancherlei, was sich keiner bestimmten Rubrik zuteilen ließ. Auch Bruchstücke, einzelne Verse, die mir merkwürdig schienen, sind hier aufgeführt. Ferner, sinnige Sprüche, die an alten Häusern, an öffentlichen Gebäuden, an Gemälden u. s. w. sich finden und den gesunden frommen Sinn der Vorzeit beurkunden
  7. Der 7. Abschnitt ist einer der reichsten und wichtigsten. Er enthält die eigentlichen Volksballaden und Erzählungen, die zum großen Teil einer älteren Zeit angehören und bis ins 15. und I6. Jahrhundert hinausreichen. Neben manchem Bekannten und Verwandten findet sich hier auch viel Neues und Eigentümliches, und selbst das sonst schon Bekannte und dem ganzen deutschen Volke Angehörende tritt in einer vielfach eigenen Form auf.

Mit der größten Sorgfalt war ich bemüht, überall möglichst reine und richtige Texte zu erhalten, was mir jedoch nicht immer gelungen ist. Eigene Verbesserungen habe ich mir nie erlaubt; dagegen bringen die Anmerkungen hie und da abweichende Lesarten, die von Interesse sind. Nur von drei Freunden der Volkspoesie sind mir einige Beiträge zugefloßen. Sonst habe ich diese wie meine übrigen Sammlungen einzig und allein durch eigene Mühe und Ausdauer und durch vielfache Opfer an Zeit und Geld zusammengebracht. Weitere Beiträge, Berichtigungen, namentlich vollständigere Texte einiger bruchstückartigen Lieder und Balladen oder auch eigentümlich abweichende Texte der hier mitgeteilten Stücke so wie getreue Auszeichnungen der Singweisen werden mir jederzeit willkommen sein.

Einstweilen mußte ich diese Arbeit abschließen, indem ich dafür getan habe, was Zeit und Umstände mir erlaubten. Jedenfalls besitzt Schwaben schon jetzt in meinen vier Sammlungen einen Schatz seiner Volksüberlieferungen, wie ihn kaum ein anderes deutsches Land in solcher Fülle aufzuweisen hat, und noch
späte Jahrhunderte werden dankbar dafür sein.

Tübingen, am 1. Juni, 1854.

Ernst Meier

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