Vorwort: Kinderlieder der deutschen Schweiz

Gertrud Züricher (in: Kinderlieder der deutschen Schweiz, 19126)

Recht schwierig gestaltete sich die Abgrenzung der Sammlung. Schweizerisch, d. h. deutsch-schweizerisch, ist sie insofern, als alle Verslein in der deutschen Schweiz gesammelt wurden. Ausnahmen bilden nur ein paar Varianten zu Abzählreimen, die auch in der französischen Schweiz vorkommen; ich fügte sie bei, weil mir der Vergleich von Interesse schien. Ferner nahm ich einige Verslein aus fremdsprachlichen Nachbarorten auf, doch handelt es sich dabei um Reime, besonders Spottverse, auf die Schweiz und die Schweizer, so dass sie mir auch dahin zu gehören schienen. Natürlich sind lange nicht alle Verse als aus der Schweiz stammend zu bezeichnen, wie schon die schriftdeutsche Sprache bei vielen andeutet, obschon damit nicht gesagt sein soll, dass alle hochdeutschen Verslein aus dem Ausland kommen, war ja doch das Schriftdeutsche als Kirchen-, Schul- und Literaturspräche von jeher auch hier zu Hause.

Besonders die schriftdeutsch und schweizerdeutsch gemischten Verschen sind sicher oft rein schweizerisch. In der Aufnahme hochdeutscher Verse habe ich mich aber doch sehr beschränkt und habe in der Regel die nur einmal belegten weggelassen, da hier der Zufall stark mitspielt. Eine Anzahl anderer hochdeutscher Verse aber sind sicher auch in der Schweiz als altes Gut zu betrachten (z. B. Nr. 934 f., 1157 f., 2002 f., 2504 f., 2710, 2796, 2803, 2823, 2826 f., 3248, 3349). Eine Ausnahmestellung nehmen die Gebete ein, die der Kirchensprache wegen auch in der Schweiz fast alle hochdeutsch gefasst sind, obschon viele sicher in der Schweiz entstanden sind.

Kinderlieder kann man die hier enthaltenen Verse insofern nennen, als die meisten entweder von Kindern oder im Verkehr mit Kindern gebraucht werden. Aber natürlich ist auch hier eine genaue Abgrenzung unmöglich. Einerseits wurde mir vieles von Erwachsenen als „aus der Jugendzeit stammend“ aufgeschrieben, wobei zwischen Kindheit und späterer Jugend nicht scharf unterschieden wurde; andrerseits schnappen eben Kinder im Verkehr mit Erwachsenen sehr vieles auf, was nicht für sie bestimmt ist; auch dadurch ist vieles zum Kinderlied geworden. Da selbst im Idiotikon und ändern Büchern zwischen eigentlichem Kinderlied und Volkslied selten ein Unterschied gemacht ist, war ich genötigt, die Grenzen nach eigenem Ermessen zu ziehen.

Aus den eigentlichen Sammlungen von Kinderliedern, die auf mündlicher Überlieferung beruhen, wie Rochholz, Brenner, Schild habe ich ziemlich alles einschlägige Material aufgenommen; aus Sammlungen, die mehr Volkslieder bringen, fanden sich hier nur Varianten von solchen Verslein und Liedern Raum, die ich auch von Kindern erhielt. Das Verzeichnis der Bücher, aus denen ich geschöpft habe, liegt bei; die dorther stammenden Verslein habe ich durch hochgestellte Buchstaben kenntlich gemacht. Wo ich aus einem Buch bloss ein vereinzeltes Verslein herausnahm, habe ich nur in den Anmerkungen darauf hingewiesen.

Auch in anderer Beziehung musste ich Abgrenzungen und Einschränkungen vornehmen. Die bernische Sammlung enthielt Kinderlied und Kinderspiel, in der jetzigen Sammlung musste ich entgegen dem anfänglichen Plane die Spiele weglassen, da ich für diese Arbeit noch einmal einige Jahrzehnte nötig gehabt hätte und die Sammlung zu umfangreich geworden wäre. Auch sind im Vergleich zur bernischen Sammlung verhältnismässig wenig neue Spielbeschreibungen eingelaufen, da dies schwieriger und mühsamer aufzuzeichnen ist als blosse Verslein. Bei den bernischen Spielen hatte ich eben fast alle Spiele aus der eigenen Erinnerung heraus aufschreiben können und brauchte sie durch die Kinder nur kontrollieren und ergänzen zu lassen. Ausnahmen bilden nur l. die Fingerspiele mit kleinen Kindern, die sich eng an die Kinderstubenscherze anschliessen und dort eingereiht wurden, 2. die Reigenliedchen, die ohne besonderes Spiel zu einfachen Ringelreihen gesungen werden; diese habe ich den Tanzliedchen angegliedert.

Weggelassen habe ich auch die Rätsel, da sie eigentlich mit wenigen Ausnahmen nicht der kindlichen Sphäre angehören und überdies die meisten nicht in gebundener Form vorkommen. Eine Ausnahme machte ich für ein paar Verslein von Tieren, die wohl ursprünglich Rätsel waren, jetzt aber kaum mehr als Rätsel empfunden werden (z. B. Nr. 575, 1314). Ähnlich wie mit den Rätseln verhält es sich mit den Sprichwörtern und Wetterregeln, von denen ich auch nur nach eigenem Erwägen eine kleine Auswahl aufnahm, besonders von solchen, die von Kindern oder im Verkehr mit Kindern gebraucht werden, obwohl natürlich Kinder da und dort auch andere kennen mögen.

Sehr spärlich sind in der Schweiz die sogenannten Bastlösereime vertreten, die in deutschen Sammlungen oft eine grosse Rolle spielen; natürlich ist aber das Ausklopfen von Weidenpfeifen auch in der Schweiz überall bekannt.

Nicht ausschliesslich als Kinderlieder anzusprechen sind vielleicht einige Fastnachts- und Neujahrsbettellieder, obschon auch da die Grenzen zwischen dem Besitz der Erwachsenen und der Kinder stark verwischt sind; ich nehme aber in dieser Gruppe ziemlich alles auf, weil sich da viel altes, originelles findet, das nirgends so im Zusammenhang gedruckt ist. Einige Varianten mögen zwar vielleicht mehr von den jungen Burschen als von den Kindern gesungen werden.

Auch viele Spottverse, besonders Ortsneckereien, haben die Kinder ja sicher von den Erwachsenen übernommen, doch hat man mir zahlreiche derselben von vielen Seiten her ausdrücklich als Kinderlieder bezeichnet; wo dies nicht speziell der Fall war, habe ich nach Gutdünken verschiedenes weggelassen. Diese Gruppe liesse sich ja wohl noch stark vermehren, da die Ortsneckereien gewöhnlich sehr lokal gefärbt sind; doch sind sie einander im ganzen recht ähnlich.

Was die Verslein Erwachsener betrifft, ist das nicht so zu verstehen, dass die Verslein dieser Gruppe mehr von Erwachsenen herrührten als die Verslein anderer Gruppen. Sie fallen nur mehr als solche auf und lassen sich oft nicht gut in andere Gruppen einfügen. Es sind meist Vierzeiler vom Schatz oder Spottlieder auf Mann oder Frau. In der Gruppe sah ich mich aus verschiedenen Gründen genötigt, eine strengere Auswahl zu treffen, da hier am leichtesten allerlei zufällig ausgeschnapptes mitlaufen konnte, ohne eigentlich volkstümlich oder kindlich zu sein.

Weggelassen habe ich auch das direkt Obszöne und die Zoten, da sie wohl von Kindern nachgesagt werden, während sie doch eigentlich dem kindlichen Geist fremd sind, es sei denn, dass das Schmutzige so verhüllt sei, dass die Kinder es gar nicht merken. Dagegen habe ich auch sehr derbe, ja schmutzige Sprüche aufgenommen, wo sie kindlicher Art sind, da diese echte Kinderlieder sind und der Vollständigkeit halber hineingehören.

Weggelassen habe ich auch das direkt Obszöne und die Zoten, da sie wohl von Kindern nachgesagt werden, während sie doch eigentlich dem kindlichen Geist fremd sind, es sei denn, dass das Schmutzige so verhüllt sei, dass die Kinder es gar nicht merken. Dagegen habe ich auch sehr derbe, ja schmutzige Sprüche aufgenommen, wo sie kindlicher Art sind, da diese echte Kinderlieder sind und der Vollständigkeit halber hineingehören.

Weggelassen wurden, im Gegensatz zur bernischen Sammlung, auch die Melodien. Seit jener Sammlung ging verhältnismässig wenig Neues ein und auch dort entfallen viele Melodien schon auf die Spiele; überdies bin ich nicht musikalisch genug, um die Melodien selber aufzuzeichnen oder zu kontrollieren. Immerhin habe ich in den Anmerkungen auf die Melodien meiner früheren Sammlung hingewiesen, in einigen Fällen auch auf die später erschienene Volksausgabe, da dort eine Anzahl Melodien neu dazu kamen. Die meisten dieser Verse werden ja überhaupt nicht gesungen, sondern nur in leierndem Ton gesprochen; doch hat sich der Name „Kinderlieder“ so eingebürgert, dass ich ihn auch in dieser Sammlung brauche.

Verslein bekannter Autoren habe ich weggelassen, obschon viele derselben wirklich ganz zu Kinderliedern geworden sind. Ausnahmen machte ich da, wo das Verslein so zum Volksgut geworden ist, dass Varianten zu der ursprünglichen Form entstanden (z. B. Nr. 79, 224, 638, 981) oder dass sie etwa als Gebete allgemein Verbreitung hatten (z. B. Nr. 256, 258, 263). Eine Ausnahmestellung nehmen da die Gebete ein, die eigentlich der Art nach fast alle unkindlich sind, aber wirklich von Kindern gebetet wurden und werden; berichtet doch z. B. auch J. Gottheit von dem aller unkindlichsten (Nr. 210), dass ein Knabe es jeden Tag habe beten müssen.

Auch die Abgrenzung gegen das eigentliche Volkslied war schwer. Was da und dort an Volksliedern einlief, liess ich weg; nur was häufig vorkam, nahm ich auf, meist Vierzeiler; aus Büchern nahm ich nur solche, die daneben auch mündlich belegt waren. Einige Volkslieder finden sich auch fast ausschliesslich nur noch bei den Kindern, so etwa der Pfalzgraf am Rhein (Nr. 2823), der z. B. in Bern sehr stark verbreitet ist, oder auch Regina geit i Garte (Nr. 2826 f.). Neuerdings sind durch allerlei Volksliedersammlungen, besonders die Röseligartenbändchen von 0. v. Greyerz , wieder allerlei Lieder unter die Kinder gekommen; diese nahm ich aber nur auf, falls sie aucli schon früher unter den Kindern bekannt waren. Auch finden sich in solchen Sammlungen etwa eine Reihe Vierzeiler, die im Volk und unter den Kindern kursieren, zu einem Liede zusammen-geschweisst, bloss weil sie zufällig das gleiche Versmass haben und sich deshalb nach der gleichen Melodie singen lassen, obschon sie eigentlich gar nicht zusammen gehören; dies habe ich in meiner Sammlung nicht berücksichtigt.

Weggelassen habe ich ferner die meisten Kettengeschichten, die zum grössten Teil verslos erzählt werden, wie etwa die Geschichte vom „Glüeteli“ und vom „Müsli“, das sein „Bidibidibelzeli“ flicken lassen muss. Prosatexte nahm ich in die Sammlung nur auf, wo es sich um ganz bestimmte feste Formeln handelt, wie z. B. Orakelspruche oder Schnellsprechübungen, Glockenrufe, Vogelrufe etc.

Ganz französische Texte habe ich im Gegensatz zur bernischen Sammlung weggelassen, denn, wo es sich nicht um Spiele handelt, finden sie sich nur zufällig und vereinzelt. Anders verhält es sich mit den halbfranzösischen Verschen, die auch weit von der Sprachgrenze weg noch viel vorkommen und echtes Kindergut sind.

Schwierig war oft zu entscheiden, ob ein Reimlein aus irgend einem Grunde noch verdiene, aufgenommen zu werden oder ob ich es als zu belanglos weglassen sollte, kam mir doch auch manches Zufallsverslein, mancher Wirtshauswitz, mancher Kindergartenreim und manches Sonntagsschulsprüchlein in die Hände, so dass es vieles auszumerzen gab. Da mag ich den einen zu wenig, den andern zu viel aufgenommen haben; im allgemeinen nahm ich so viel wie möglich auf, da ich mir sagte, was dem einen wertlos erscheint, kann aus irgend einem Grunde für den andern von Interesse sein.

Manches Verslein ist uns auch schon durch sein hohes Alter interessant. (Besonders alt scheinen z. B. folgende Nummern zu sein oder wurden mir als solche bezeichnet: 76f., 211, 266, 320f., 444, 457, 548, 549, 661 f., 1037 f., 1304, 1335 f., 1517 f., 1915, 2083 f., 2326 f., 2490, 2572 f., 2612, 2651, 2713, 2718 f., 2784 f., 2804 f., 2957 f., 3055 f., 3730 f., 3885, 3932 f., 4041 f., 4098 f., 4725t., 4734 f., 5090t.). Sind doch vieles die gleichen Verslein, an denen sich unsere Vorfahren vor Jahrhunderten als Kinder ebenfalls ergötzten und die ihnen später wichtig genug erschienen, um sie mündlich spätem Generationen weiter zu geben.

Abgesehen von dem reichen Sprachschatz ist in diesen Verslein neben viel Derbem doch auch viel Inniges und Sinniges, viel Humor und Witz, viel Anschauungsweise und Urteil des Volkes enthalten. Es ist ein reiches Gut, das als Teil unserer Eigenart wohl verdient, der Nachwelt weiter gegeben zu werden. Viele alte Verse verschwinden auch mit den Bräuchen, die damit zusammenhingen, wie etwa die Fastnachtsbettellieder, andererseits rufen die neuen wichtigen oder für die Kinder wichtigen Zeitereignisse auch wieder neue Verslein hervor (z.B. Nr. 1752 f., 2046 f., 4394, 4574). Dabei machte ich die Erfahrung, dass es nicht etwa die abgelegenen Dörflein waren, die die alten Verslein am besten erhalten hatten, sondern häufig eher die grössern Orte.

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