Vorwort: Jungbrunnen (Scherer)

Georg Scherer (in: Jungbrunnen - Die schönsten deutschen Volkslieder)

Waldfrische ist der Charakter dieser Lieder, sie sprechen neben dem Kunstliede der gelehrten Dichter einen gesunden Sinn noch ebenso an, wie Feldblumen und Waldblumen das Auge  des Naturfreundes erquicken; selbst wenn sich ihm in seinem Garten die auserlesensten Zierpflanzen darbieten. Es ist die Schönheit der Unschuld, die „nicht sich selbst und ihren heilgen Wert erkennt“. Diese Lieder gehören zu den holdseligsten Blüten des deutschen Geistes, in ihnen fühlt man den vollen Herzschlag unseres Volkes und lernt dasselbe von er liebenswürdigsten Seite kennen. Nirgends spricht sich das bessere Selbst eines Volkes in ganzer Eigentümlichkeit mit so scharfem Gepräge aus, als eben in der lyrischen Poesie, die, wie Pulsschlag und Atemzug, Zeichen und Maß des Innersten Lebens ist. Während die großen epischen Ströme (Nibelungen, Gudrun) den Charakter eines ganzen weit umgreifenden Flußgebietes in Zeit und Geschichte spiegeln, sind diese lyrischen Ergüsse die Brunnen und Quellen, die mit ihrem Adernetz das ganze Land durchtränken und das Geheimnis seines innersten Lebens zu Tage bringen. Das Volkslied ist daher eine ergiebige Quelle für die Kulturgeschichte unseres Volkes; zugleich ist es aber durch die Frische seiner Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für die Kunst einer ausgetrockneten Bildung.

Mehr als einmal hat die Kunstpoesie, wenn es ihren Brunnen fehlte, aus dem reichen Born des Volksliedes geschöpft
und ihre eigenen trüben Weisen in seiner kristallenen Flut geklärt. „Kein Moment der Einwirkung des Volksliedes auf die Kunstdichtung war jedoch so bedeutend als der, da Percy’s Sammlung in England, stärker und früher noch entscheidend in Deutschland zündete, die Göttinger Schule zu den ersten frischeren Lauten geweckt wurde, Bürger die erste wahre Ballade dichtete, Herder die „Stimmen der Völker“ sammelte und Goethe‘ s Genius sich zu diesem frischen Borne beugte, um zu trinken. Und wo wären Uhland , Wilhelm Müller, Eichendorff und die ganze Gruppe der Lyriker,
in welchen die romantische Schule ihre gesundesten Sprossen trieb, wo wäre Heine geblieben, wenn sie nicht alle aus diesem frischen Felsquell getrunken hätten? Was aber vom Dichter, das gilt auch vom Publikum: als letzte Arznei gegen Verkünstelung und Blasiertheit des poetischen Geschmacks wird immer auf’s neue die ungeschminkte Einfalt des Volkslieds ihm zu rathen sein“ (Vischer).

Das Volkslied ist selbst der Jungbrunnen, von dem es singt:

Und wer des Brünnleins trinket,
Der jungt und wird nit alt.

Dem zur Einheit, Macht und Größe erstandenen deutschen Volke diesen verjüngenden Quell  zugänglich zu machen und ihm so den Reichtum seines ureigensten Wesens zu erschließen, das ist der Zweck des vorliegenden Werkes. Möchten Goethe’s goldene Worte über „des Knaben Wunderhorn“ auch von ihm gesagt werden können:

„Von Rechts wegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unter’m Spiegel, oder wo sonst Gesang- oder Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte.

Am besten aber läge doch dieser Band auf dem Klavier des Liebhabers oder Meisters der Tonkunst, um den darin enthaltenen Liedern entweder mit bekannten hergebrachten Melodien ganz ihr Recht widerfahren zu lassen, oder ihnen schickliche Weisen anzuschmiegen, oder wenn Gott wollte, neue bedeutende Melodien durch sie hervorzulocken.

Würden dann diese Lieder nach und nach in ihrem eigenen Ton- und Klang-Elemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie allmählig, belebt und verherrlicht, zum Volke zurück, von dem sie zum Teil gewissermaßen ausgegangen, so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt, und könne nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen.“

Stuttgart, im Oktober 1874.

Georg Scherer

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