Vorwort: Jungbrunnen (Scherer)

Georg Scherer (in: Jungbrunnen - Die schönsten deutschen Volkslieder)

Wie unsre Sagen und Märchen, Kinderreime und Volksrätsel, Sprichwörter und Segenssprüche, reichen auch die meisten unserer Volkslieder in eine viel frühere Zeit hinauf, als man auf den ersten Blick glauben möchte.

Das alte Epos ist aus einzelnen Volksliedern entstanden und auch der Minnegesang ging vom Volksliede aus. Erst nachdem die höfische Poesie sich ausgelebt und auch das alte Epos seinen Untergang gefunden hatte, schoss das Volkslied in immer reicheren Trieben hervor und beherrschte im 15. und 16. Jahrh. die ganze Lyrik ausschließlich. Während der zünftige Meistergesang sich hinter die Tore der Reichsstädte verschloss, schwärmte der Volksgesang
auf allen Straßen und Feldern Deutschlands umher.

Der frische Hauch eines sich neu verjüngenden Lebens durchdrang alle Stände; die ganze Volkspoesie hat deshalb einen gleichartigen, allen verständlichen Charakter. Aber in der reichen Fülle des gegenwärtigen Lebens stehend, vermochte sie auch die einfachsten Motive hundertfach zu variieren, ohne ermüdend oder langweilig zu werden; daher die bunteste Mannigfaltigkeit bei dem größten Reichtum. (Müllenhoff: „Sagen etc. aus Schleswig-Holstein“)

Da sind zuerst die Reste und Nachklänge des alten Epos, jene düsteren, zuweilen selbst finsteren Balladen , voll erhabenen Schwunges und dramatischen Lebens, stimmungs- und ahnungsvoll, nicht selten geisterhaft, ja dämonisch wirkend: die lyrische Behandlung des epischen Stoffes steigert sich meist zu dramatischem Ausdruck. Da ist ferner der blühende Fruhling von Liebesliedern , jene alten, ewig jungen Lieder von der Treue und Untreue, vom Scheiden
und Meiden, vom Wandern und Wiedersehn und vom Nimmerwiedersehn.

Diese wehmütigen, rührenden, tief empfundenen Lieder schöpfen ein ganzes Herz bis zum Grund aus, und ein einziges derselben wiegt oft ganze Bände künstlicher Poesie voll erlogener und nachgeahmter Empfindung auf. Dann das historische Volkslied, welches ein selbst durchlebtes geschichtliches Ereignis lebendig schildert, und endlich das geistliche Volkslied, das von der Kirche nicht in ihren unmittelbaren Dienst gezogen wurde und nun wie ein Waldbruder im Freien lebt.

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