Vorwort: Der Liederfreund (1949)

Dr. Walther Pollatschek (in: Vorwort Der Liederfreund - neue verbesserte Ausgabe 1949)

Heute will die deutsche Jugend wieder wandern und nicht mehr marschieren, sie will die Natur sehen und nicht mehr das Aufmarschgelände. Sie sucht nach Echtheit und Wahrheit, nach Eigenleben. Auch im Liede soll sie es finden, und dieses Büchlein, die Frucht jahrzehntelangen Sammelns und Singens, will ihr dabei helfen. Es kann nicht mehr die gleiche Liederwahl sein wie vor einem halben Jahrhundert, denn die Zeit ist eine andere. Aber der gleiche Geist der Wahrheit und Echtheit wird in ihr gesucht.

Wer mit dem deutschen Volksliede vertraut ist, der weiß, wie groß der Schatz ist, der sich uns hier darbietet. Nur ein kleiner Teil des Wertvollen kann in einem Büchlein Raum haben, das der junge Mensch mit sich tragen soll. So manches Mal stand der Herausgeber vor der Frage, was er denn nun weglassen solle. Um möglichst viel bringen zu können, wurden in die Sammlung manche Lieder nicht aufgenommen, die allgemein bekannt sind.

Anderseits sollten die verschiedenen Landschaften Deutschlands vertreten sein, so daß die Aufnahme einer beschränkten Zahl von Dialektliedern angebracht erschien, denn gerade in ihnen spricht sich der vielfältige Charakter des Volksliedes am deutlichsten aus. Es genügte aber nun nicht, alte Volkslieder in das Buch aufzunehmen. So hatten es die alten Wandervögel mit ihren Sammlungen halten können, weil das Volkslied ihrem Erleben ganz und gar entsprach. In der heutigen Zeit können wir nicht an Liedern vorbeigehen, die dem gewandelten Erlebnis Ausdruck geben.

Der ganzen deutschen Jugend soll das Buch gewidmet sein; dies bedingte, daß die verschiedenen Weltanschauungen Berücksichtigung finden. Darum trifft man in dieser Sammlung katholische und evangelische, bürgerlich-demokratische und sozialistische Lieder der verschiedenen Richtungen nebeneinander. Der Herausgeber hält es sogar für besonders wünschenswert, daß Jugendliche die Lieder Andersgesinnter kennenlernen, denn dies ist ein Weg, Verständnis füreinander zu gewinnen und die andere Meinung gelten zu lassen. Und Verständnis für andere zu gewinnen, das ist es auch, was zur Aufnahme einer kleinen, ausgesuchten Zahl von ausländischen Volksliedern geführt hat.

Sie sollen uns zeigen, daß über alle Unterschiede hinweg die gleichen Empfindungen und Gedanken in den Menschen unserer Erde leben. Dies gilt vor allein auch von der Sehnsucht nach Freiheit, vom tapferen Kämpfen für sie. Unsere Sammlung hat neben ihren anderen Aufgaben auch die, uns in bedrückender Zeit zu ermutigen. Sie kann uns zeigen, wie auch Deutschland eine stolze Tradition der Freiheitsbestrebungen hat. Um Freiheit rangen die Menschen des Bauernkrieges und die demokratischen Kämpfer des vorigen Jahrhunderts. Für die Freiheit kämpften Deutsche an der Seite des unglücklichen spanischen Volkes. Im Kampf um die Freiheit erduldeten Deutsche die Qualen der Konzentrationslager, deren Lieder hier zum Teil erstmalig gedruckt werden. Gerade bei den politischen Liedern übrigens war man streng bemüht, die Phrase, das Unkünstlerische und das nicht Volksliedhafte auszuscheiden.

Die großen Schwierigkeiten, die gegenwärtig der Feststellung von Urheberrechten im Wege stehen, lassen es — trotz aller angewandten Sorgfalt — möglich erscheinen, daß ein solches Recht unberücksichtigt geblieben sein könnte. Beim Vorliegen eines solchen begründeten Falles wende man sich an den Verlag!

Möge die Sammlung in Ernst und Scherz, beim Wandern und beim Nestabend, in kleinem und größerem Kreise jungen Menschen das werden, was ihr Name sagt: ein Freund.

DR. WALTHER POLLATSCHEK

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