Vorwort: Das deutsche Kinderbuch

J. Corroddi (in: Das deutsche Kinderbuch (Karl Simrock))

Wer sich an dieser trefflichen Sammlung nicht jung liest, der verdiente eigentlich nicht alt zu werden. Da haben wir das wahrhaftige Bild unserer Kindheit in seiner ganzen Frische, Einfachheit und Unschuld lebendiger gezeichnet, als es irgend eine gemachte Kindergeschichte vermag. Man weiß nicht, soll man mehr die Reichhaltigkeit unserer Sprache und volksthümlichen Literatur oder den Fleiß eines Mannes bewundern, der alle diese theils nur in vereinzelten Landstrichen, theils überall wo deutsche Zungen klingen heimischen Schätze zu einem lieblichen Strauße verband.

Wenn hier endlich eine neue Auflage des Kinderbuches erscheint, so ist bei der Sache nur das zu verwundern, daß sie nicht schon in der ersten Woche nach Erscheinen der ersten Auflage nöthig geworden, Denn in der ganzen neueren Literatur ist es meines Erachtens eine der liebenswürdigsten und geradezu segensreichsten Erscheinungen. Aber was sag ich von neuerer Literatur. Dies Büchlein gehört ja gar nicht in die Literatur, nicht auf die Zunftstuben mit ihren wurmstichigen Büchersärgen, o nein dies Büchlein gehört in seine Heimat zurück, tief tief in die jubelnde Kinderwelt hinein, dies Büchlein soll in den ersten Tagen schon äußerst mitgenommen und vergriffen aussehen, es soll’s kein Käshändler mögen nach drei Wochen und von seiner Existenz soll ein Antiquar nur etwa durch eineu Flegeljährigen, der dafür Kuchen kaufen will Kennmiß erhalten und diesen Flegeljährigen soll für solche Unthat sein Gewissen beißen bis er weiß köpsig ist.

Dieses Buch ist in seiner Art eben so freudig zu begrüßen, wie in der gelehrten Welt der vierte Kosmosband. Denn wenn letzterer den Makrokosmos bietet, so spiegelt das Kinderbuch den lieblichsten freudenreichsten und heimseligsten Mikrokosmos die Kinderwelt, und ich halte dafür daß in Meister Simrocks Büchlein mehr Liebenswürdigkeit und mehr Lebenssegen niedergelegt ist, als in der ganzen Schlosserschen Weltgeschichte.

Wer sich in eine engbegrenzte eigne Welt verpuppt hat und von ganzem Herzen gern bei den schönen Keimen der Menschheit bei den Kindern verweilt, mit ihnen spielt und sie studirt, dem ist das Kinderbuch ein kinderliterarisches Ereigniß, eine kinderweltgeschichtliche That, die eine wahrlich segensreichere Tragweite hat als ein Garantiepunct- Ich muß oft lachen wenn ich all das Gebäck durchgehe das da alljährlich aus dem Preßofen gezogen wird um den jungen Menschlein die Zähnlein und das Mägeli zu verderben. Daß es jeder dieser Pastetenbäcker ganz gut meint das geb ich freilich zu. Aber Gott im Himmel wie ist die Mehrzahl dieser guten Kuchenfabrikanten so selbst bewust so tantlich wie altklug sitzt sie vor ihrem Teig und wie herablaßend steckt sie der lieben Jugend das Zeug in’s harrende Maul

O ich weiß wol die allermeisten Iugendschriftenfabrikanten preßen und kneten ihre Maaren bei verschlossenen Thüren statt daß fröhliche Kindertätzchen lustig mitkneten und mitformen und belehren wie sie’s haben wollen Ah diese kleinen unverschämten Liebenswürdigen  haben eine ganz eigene Logik und ein so streng abgeschlossenes Anschauungs und Denkreich daß Fräcke Brillen und Zöpfe und übrige Kathederapparate ihnen blos zu Puppenanzügen und Theaterspielen tauglich scheinen Es ist merkwürdig wie diese Thatsache so wenig beachtet wird Ich will wetten die Entsteher all dieser braven und erzogenen Bücher haben noch nie zwischen jungem wildem Volk mit den besten Hosen oder Röcken auf staubigem Boden gesehen sich den Bart zupfen die Taschen berauben auf sich herum klettern lassen die hocken alt und vornehm da und haben den Zauberkreis der Autorität um sich gezogen über den kein junges Teufelein zu springen wagt und sie denken dabei Wart nur tolles Volk bis mein Opus herauskommt das wird dich bilden und striegeln Ja wol klar versteht sich Das herrliche verständige bildende Buch so da auf dem Weihnachtstisch gleißt und sich brüstet wird freilich anfangs jubelnd durchgesehen die Bilder locken der Titel reizt alles zieht und in vierzehn Tagen läßt sich eine lehrreiche Geschichte darüber schreiben folgenden Anfanges Es war einmal ein Buch Lieber Leser und noch liebere Leserin ich stelle folgenden Satz auf Liesest du dieses Kinderbuch wie es gelesen werden muß nämlich mit Kindersinn s isch große Trost und Sege drin und jugendseliger Erinnerung so wirst du mir recht geben mühen wenn ich behaupte diese Sammlung ist ein Compendium der Kinderweltgeschichte Dies Kinderbuch umfaßt die Jugend von uns allen mit diesen Licdlein sind wir in Schlaf gesungen worden nach ihnen haben wir auf Vaters Knie geschaukelt sie haben wir im stillen Kämmerlein aufgesagt auf der Wiese haben wir nach ihnen getanzt und gebrütet an dm Sprechübungen unser Schnäbelein gewetzt und an den Riithselfragen das Kopfhäuslein erweitert Dies Buch war unser Eigenthum ehe wir buchstabiren konnten es war von Alters her bei allen Müttern und Kindern Ammen und den beßern Tauten es hat sich aufgebaut wie ein glitzriger Korallenbaum und baut sich fort die Jahrhunderte hinaus so lange sich noch kindliche Weisheit die Dinge des Himmels und der Erde und die Gedanken der eignen kleinen Brust fröhlich und sorglos an Wortschnüre reiht und lustig klingelnd damit herumhüpft O dies Buch hat keinen Anfang und kein Ende keinen Verfaßcr und keine Eigenthümer denn es nennt die Leute sein und allen auch gelben sinster Pedanten hat es ein Glöcklein angehängt an unlösbarem Fädchen Es wäre wol recht bildend für die Jugendschriftsteller die nur jugendschriftstellern und nicht auch geistig jung sind dies Buch auswendig zu lernen darüber zu forschen und zu brüten Tag und Nacht und sich an seinem klaren frischen Jungbrunnen rein zu waschen von den vielen Sünden die sie mit ihrem Zeug an der Kinderwelt begehen es war recht nett wenn sich alle die für die Jugend schreiben vornehmen würden nicht gescheidter sein zu wollen als dieses Buch Wir bekämen dann viel Schönes Darum laßt uns hineinsitzen in diese kühlen Büsche Fink und Lerchen und Grasmücken sollen uns singen die Fischlein sollen uns umfließen und wir wollen Weiden schneiden sie mit dem Meßer klopfen und in die weißen Sommerwolken hinaufbeten

Fabian Sebastian
Lat mi de Widenflöt af gahn
Amen

Ja da haben Sie’s nun bester Herr Winter das ist mir ein saubere Einleitung geworden Ich will aber etwas unverschämt sein und geradezu behaupten es läßt sich keine beßere schreiben Denn sehen Sie wenn da die Bogen vor Ihnen liegen und in allen möglichen Mund und Bersarten Sie um surren und umtönen so kommen Sie in eine solche selige Tollheit hinein daß Ihnen jeglicher Borredeernst und jegliche Einleitungswürde zum Teufel gehn und Sie statt den Publicus bücklinglich zu introduciren und ihm die Saalthür ernsthaft aufzumachen und zu jflöten Bitte spazieren Sie gefälligst voran den betreffenden Kerl bei den Schulterblättern kräftiglich in den Lärm hineinstoßen über ihn hinturnen und sofort Ringelreihe singen müßen Darum machen Sie mit Nebenstehendem was Sie wollen drucken laßen können Sie’s ja immerhin doch Es ist eine tolle Geschichte so oft ich dies Buch vor mir habe werd ich ausgelaßen und könnt springen und tanzen und laut schreien Es ist eben der berauschende Rebenblüthenduft der aus diesen Blättern strömt und die eigne Frühlingszeit im Faß wach ruft daß es gährt und hinaus will Dies Büchlein ist seit ich es besitze nie aus meiner Armlänge gewichen und mögen die Ganzgescheidten meinetwegen die Metaphysik der Blattläuse studiren oder über die Teleologie eines alten Stuhlbeins brüten in der Kinderwelt ist meine Ss ele vergnügt und singet in sich Und nun festen Gruß und Handschlag euch biderben Kinder spruchsammlern ihr habt ein schöner Werk gethan als wenn ihr den Kölner Dom fertig gebaut hättet

Lugano
Von ganzem Herzen
Euer J. Corroddi

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