Was ist ein Volkslied

Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 235-236.

Da das Volkslied durch den oft tausendfach wiederholten Gesang in gefühlvollen Stunden gleichsam von allen Schlacken gereinigt worden ist, da es alle trocken verstandesmäßigen Elemente ausscheidet und sich immer inniger dem Herzensbedürfnis einfacher und geistig gesunder Menschen anpaßt, so besitzt es in seinen schönsten Kundgebungen einen unnachahmlichen poetischen Zauber. Daneben gibt es aber auch viele Volkslieder von geringem Wert. –

Lieder, die sich dem Charakter des Volksliedes annähern, ohne aber im Volke gesungen zu werden, heißen volkstümliche Lieder. Von andern wird freilich der Ausdruck »volkstümliche Lieder« für solche Volkslieder angewendet, deren Verfasser bekannt ist; doch nach verbreitetem und eingebürgertem Sprachgebrauch sind Lieder wie die »Lorelei« und »In einem kühlen Grunde« echte Volkslieder; wo und wie und durch welchen Verfasser das Lied entsteht, ist dem Volk ganz gleichgültig.

Eine Abart des Volksliedes bildet das Gesellschaftslied: es wurzelt nicht in dem typischen Gesamtbewußtsein der ganzen Volksgemeinschaft, sondern in dem meist konventionellen Bewußtsein bestimmter Gesellschaftskreise; es ist in der Regel zu gemeinschaftlichem, geselligem Vortrag verfaßt; an Wert steht es dem Volkslied nicht gleich. Endlich bezeichnet man als Gassenhauer die entarteten Volksgesänge der großen Städte; vielfach der Operette und dem Tingeltangel entwachsen, offenbaren sie die Gemütsverrohung des großstädtischen »Volkes«.

Bei allen Völkern hat naturgemäß die Poesie in ihren Anfängen meist einen volksliedmäßigen Charakter. Als Volkslieder müssen wir die Lieder bezeichnen, die nach Tacitus‘ Bericht die alten Deutschen zu Beginn eines Kampfes anstimmten, ebenso die Lieder, in denen sie (gleichfalls nach Tacitus‘ Bericht) die Stammväter ihres Volkes, den Helden Arminius und ohne Zweifel auch andre Helden besangen. Nach Einführung des Christentums suchte die Geistlichkeit die offenbar zum größten Teil in den Anschauungen der heidnischen Zeit wurzelnden Volkslieder zu unterdrücken; so ist es zu erklären, daß ein Denkmal wie das Hildebrandslied (s. d.) in Deutschland völlig vereinzelt dasteht.

Namentlich wendete sich die Geistlichkeit schon zu Ende des 8. Jahrh. gegen eine Art des fröhlichen, leichtfertigen, weltlichen Volksgesangs, die mit dem Namen Winiliod (Freundeslied) bezeichnet wird, und Otfried (s. d.) hat seine geistliche Dichtung mit der ausdrücklichen Absicht verfaßt, dem unzüchtigen Gesang der Laien entgegenzutreten. Doch muß auch in den folgenden Jahrhunderten das Volkslied in Deutschland geblüht haben. Seine Einwirkung ist in den schriftlich ausgezeichneten Literaturwerken vielfach zu erkennen, vor allem in den Liedern der ältern österreichischen Minnesinger und der Vaganten.

Mit dem Verfall des künstlichen Minnegesanges beginnt dann auch in den gebildeten Kreisen das Interesse an dem einfachern Volksgesang wieder aufzuleben; in dem 14. Jahrh. verzeichnet die Limburger Chronik, welche Lieder in den einzelnen Jahren neu aufkamen. Aus dem 15. Jahrh. sind mehrere Sammlungen von Volksliedern erhalten, so namentlich eine von Fichard im »Frankfurter Archiv für ältere deutsche Literatur und Geschichte«, Teil 3 (1815) herausgegebene, auch das Liederbuch der Augsburger Nonne Klara Hätzlerin (hrsg. von Haltaus, Quedlinb. 1840) sowie das »Locheimer Liederbuch« (bearbeitet von Arnold und Bellermann im »Jahrbuch für musikalische Wissenschaft«, Bd. 2, 1867) enthalten Volkslieder.

Eine für das ausgehende Mittelalter und die Reformationszeit charakteristische Gattung ist das historische V.; besondere Erwähnung verdienen die Lieder dieser Art, die den Freiheitskämpfen der Schweizer und der Dithmarschen ihre Entstehung verdanken. Der Aufschwung der deutschen lyrischen Dichtung, der, vom Volkslied wesentlich beeinflußt, im letzten Drittel des 18. Jahrh. eintrat, hat auch wieder auf das Volkslied zurückgewirkt, indem das Volk sich Lieder deutscher Dichter aneignete und umbildete. Daneben hat die Abfassung neuer Volkslieder von unbekannten Dichtern, denen alle künstlerischen Absichten fernlagen, bis in die Gegenwart nicht aufgehört, namentlich in den Alpenländern.

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