Steinitz VII: Das andere Volkslied

Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I, 1954, Seite XXII f)

1927 erschien in Heide, Holstein, ein kleines Büchlein von Robert Strohmeyer unter dem Titel „Das andere Volkslied“ (55 S.); da das Heft kaum zugänglich sein wird), sei hier aus seinem Vorwort ein ausführlicheres Zitat angeführt:

„Dieses Buch enthält eine kleine Auswahl unbekannter Volkslieder, die großen wissenschaftlichen Sammlungen entnommen sind. Es soll bewiesen werden, daß das Volk nicht so kriegsfreudig veranlagt ist, wie ihm von interessierter Seite immer eingeredet wird. Zu allen Zeiten hat der gemeine Mann das Soldatenhandwerk verabscheut und diesem Gefühl beredten Ausdruck verliehen. Mancher wird erstaunt sein, noch nie von dieser Art Volkslied gehört zu haben. Wer ein wenig überlegt, müßte eigentlich selbst den Grund finden, der die Unterschlagung dieser Dichtungen notwendig machte…

Die Machthaber der imperialistischen Epoche waren ängstlich bemüht, alle Versuche einer unbestechlichen Geschichtsdarstellung zu unterdrücken. Wer die Wahrheit sagte, wurde kaltgestellt oder gar von den Gerichten verfolgt (viel hat sich bis heute in diesem Punkte ja leider nicht geändert). Alle Wissenschaftler sind mehr oder weniger von der jeweils herrschenden Gesellschaftsklasse abhängig.

Die Literaturhistoriker konnten ihre großen Sammlungen sehr oft nur mit staatlicher Subvention herausgeben. Wenn man aber von jemandem unterstützt wird, kann man ihn unmöglich bloßstellen oder gar angreifen. Deshalb findet man in den großen Sammelwerken auch die revolutionäre Volkspoesie kaum vertreten. Wenn es sich aber nicht umgehen ließ, und diese und jene Anklage eines geknechteten Volkes gebracht werden mußte, so entschuldígte man sich mit vielen Worten. Im Anhang zu diesem Buch wird der Leser einige ergötzliche Proben solcher Ausflüchte finden.“

Strohmeyers Arbeit, so richtig sie gedacht war, blieb ohne Auswirkung. Dies lag nicht nur an der politischen Situation gegen Ende der Weimarer Republik, sondern auch an der wissenschaftlich ungenügenden Art seiner Beweisführung. Die Publikation stützte sich
nur auf einige wenige bekannte Sammlungen und gab den Reichtum des oppositionellen Soldatenliedes nicht im entíerntesten wieder). (Noch weit mehr gilt dies von dem, freilich unter einem ganz anderen Aspekt geschriebenen Büchlein des 1919 in München vom weißen Terror ermordeten Sozialisten-Kommunisten Eugen Leviné „Stimmen der Völker zum Krieg“, das, 1924 im Malik-Verlag erschienen, in Kap. 3 nur die drei ganz bekannten, hier unter Nr. 154, 176 und 177 angeführten deutschen Volkslieder enthält.) völlig verfehlt war, daß sie durch willkürliche Weglassungen aus Landsknechtsliedern im Stil des Schwartenhalses „Antikriegslieder“ zu machen versuchte.

1929 erschien eine Sondernummer „Das Revolutionslied“ der Zeitschrift „Kulturwille. Monatsblätter für Kultur der Arbeiterschaft“, Leipzig, 1929, Nr. 3, mit einem Aufsatz über „Revolutionäre Volkslieder”, aus der gleichfalls einige interessante Stellen angeführt seien: (Ich verdanke den Hinweis Bruno Kaiser, der mir diese Sondernummer aus seiner reichen Privatbibliothek zur Verfügung stellte.)

„Die eifrige Arbeit der Gelehrten hat die geschichtlichen Anlässe und Zusammenhänge der Volkspoesie aufgespürt und den Begriff des historischen Volksliedes geschaffen. Das Nachleben von Kriegen, Triumphen, Niederlagen, Katastrophen, Sonderbarkeiten, Helden und Räubern im Lied des Volkes wird heute von jedem Kulturhistoriker dokumentarisch gewertet. Der Fleiß der Gelehrten hat die ungeheure Masse der überlieferten Lieder nach Themen geordnet und auf Grund dieser Ordnung bestimmte Lebensäußerungen und Triebe und Erlebniskreise durchforscht.

Wir können uns heute über das erotische und sexuelle Leben des Volkes aus seinen Liedern unterrichten, wir können den Widerklang bestimmter historischer Ereignisse aus den Volksliedern vernehmen ~ nur die Klassengegensätze und die Klassenlage, die Spiegelung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der Dichtung des Volkes, diese elementaren Antriebe im Leben und in der Dichtung haben ihre gelehrte Abhandlung bis heute nicht gefunden.

Wer nur flüchtig die große Summe von Liedern aller Länder und Rassen überschaut, die der Fleiß von Generationen mit liebendem Eifer gesammelt hat, wird sich überzeugen, daß sich hier der sozialistischen Forschung und Kunstpflege ein weites und interessantes Gebiet eröffnet. Da sind zunächst die Lieder der Revolutionen, sozusagen die historischen Volkslieder des Sozialismus. Der deutsche Bauernkrieg in allen seinen Phasen, sein Sieg und sein Untergang, baut sich im Volkslied auf. Der Heldenmut der Holländer . . . Die Geschichte der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung läßt sich an Liedern dartun, die von den Massen gesungen wurden . . .  Die maschinenstürmerischen Zeiten haben ihren Ausdruck gefunden in dem Lied der Weber von Peterswaldau und Langenbielau, „Das Blutgericht“ (1844).

Die Auseinandersetzung zwischen Gemäßigten und Radikalen läßt sich an den Liedern Johann Mosts studieren, der übrigens als erster zur Weise des Andreas-Hofer-Liedes einen Text geschaffen hat, einer Weise, nach der noch heute die Arbeiterjugend ihr Lied von der jungen Garde des Proletariats singt. Die verschiedenen Texte der Marseillaise, die sie mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung bekommen hat, verdeutlichen die Etappen, die die Arbeiterklasse auf ihrem Weg zum Aufstieg zurückgelegt hat.

Aber neben diesen historischen Liedern böte sich nun weiter die Untersuchung der gesamten Volkspoesie auf ihren klassenmäßigen Charakter. Die soziale Qual und Ausbeutung der slowakischen Bauernmassen durch das heute noch regierende magyarische Herrengesindel ist für immer in die Klage slowakischer Bauernweisen gebannt. Die Handwerkslieder, Kaufrufe, Spottlieder gegen einzelne Gewerbe und die Arbeitsrhythmen erhalten so einen urkundlichen Wert.

Hier bietet sich eine ungeheure Aufgabe, die von einem einzelnen nicht zu bewältigen ist, die aber einer eifrigen und hingebungsvollen Gemeinschaft eine schöne Arbeit werden könnte. Als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts „Des Knaben Wimderhorn“ erschien, ging von dieser Liedersammlung ein Strom dauernder Einwirkung in die Kunstdichtung. Ein proletarisches_„Wunderhorn“ wäre dem um seinen geistigen Aufstieg ringenden Proletariat eine wichtige und nicht zu unterschätzende Gabe.“

Die Aufgabe ist im allgemeinen klar erkannt, die konkreten Ausführungen über das Lied im deutschen Bauernkrieg usw. zeigen aber, daß der Verfasser das Material kaum kennt.

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