Steinitz V: Die Volksliedforschung

Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I, 1954, Seite XXV f)

Der größte Sammler des deutschen Volksliedes, Ludwig Erk (1807-1883), gehörte zu dem Freundeskreis von Hoffmann von Fallersleben und war als Musiklehrer jahrzehntelang engster Mitarbeiter des hervorragenden fortschrittlichen Pädagogen Adolph Diesterweg an den Lehrerseminaren zuerst in Moers und dann in Berlin, wo Diesterweg wegen seiner aufrechten Haltung 1850 amtsenthoben wurde.

In seiner Autobiographie schreibt Hoffmann von Fallersleben 1848: „Ich fand einen`Brief von Erk vor, der unter den frischen Eindrücken der Ereignisse vom 18. und 19. März geschrieben war. Darin heißt es denn unter anderm: ,Es ist eine schöne Zeit, in der wir leben. Kommen Sie zu uns und helfen mit Ihrem Rat und mit Ihrer Gesinnung, um das Vaterland zu stärken! . . . . Nachdem ich mit Erk die Herausgabe des Volksgesangbuchs gehörig besprochen und dann beschlossen hatte, reiste ich den 9. April ab. _ . . . Den 6. Mai war ich wieder bei Erk. Wir arbeiteten nun sehr fleißig an dem Volksgesangbuch, ich hatte keine Zeit, mich um andere Dinge viel zu bekümmern. . . . . Unser gemeinschaftlich begonnenes Buch war fertig. Am Tage der Eröffnung des deutschen Parlaments, 18. Mai, schrieb ich mein Vorwort.“ (H.v.L.: Mein Leben V, S. 20ff)

Seit den 30er Jahren hatte Erk selbst und durch seine zahlreichen Freunde in ganz Deutschland Volkslieder zu sammeln begonnen, von denen er 1838-1845 über 800 in dreizehn Heften herausgab. Diese Sammlung sowie sein im Deutschen Volksliedarchiv erhaltener, schon oben erwähnter, fast 20.000 Volkslieder umfassender handschriftlicher Nachlaß sind eine Fundgrube für die vorliegende Arbeit gewesen.

Der Volksliedsammler Ludolf Parisius (1827-1900) war als Abgeordneter der Deutschen Fortschrittspartei von 1861 an Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. 1855 Assessor, 1858 Kreisrichter in seiner Vaterstadt Gardelegen, Altmark, wurde er 1864
wegen seiner demokratischen Haltung seines Amtes enthoben und ohne Pension entlassen. Seine Sammlung von Volksliedern aus der Altmark aus den Jahren 1856–58 enthält u. a. zahlreiche, sehr interessante oppositionelle Soldatenlieder, von denen einige in diesem Band aufgenommen sind. Die ganze wertvolle Sammlung wird in diesem Jahr in den Veröfentlichungen des Institufts für deutsche Volkskunde erscheinen.

Der dritte große deutsche Volksliedsammler des 19.Jhs. – neben Hoffmann von Fallersleben und L. Erk – ist Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth (1801-1880). In seiner Studentenzeit bekam er und seine ganze Familie die Willkürherrschaft der kleinen deutschen Despoten zu spüren. „Die zur Gräfin von Reichenbach erhobene Maitresse des Kurfürsten Wilhelms II. herrschte damals allmächtig in Kurhessen. Die Familie Georgs v. Ditfurth war bei ihr in Ungnade gefallen und somit bestand auch für Franz Wilhelm keine Aussicht auf staatliche Anstellung.“ (W. Schwinn, Studien zur Volksliedsammlung „Fränkische Volkslieder“ von F. W. v. Ditfurth. 1939, S. 3.)

Nicht zufällig hat v. Ditfurth in seine „Historische Volkslieder von 1815-1866“ ein gegen die Maitresse und ein gegen das kurfürstlich-hessische Zopfregiment gerichtetes Lied aufgenommen.

Über v. Ditfurths politische Haltung im Vormärz und 1848 ist mir nichts Näheres bekannt. Er hatte zeitlebens große Schwierigkeiten, seine Volksliedsammlungen drucken zu lassen. Aber diese sprechen ihre deutliche Sprache und zeigen, daß v. Ditfurth nicht
zur sturen Reaktion gehörte oder auch nur seine Bücher ihr zu Gefallen einrichtete, wie das später F. M. Böhme und andere taten. So veröffentlichte er im Januar 1872 – also unmittelbar nach dem Triumph der preußischen Reaktion in der Frage der deutschen Einheit – den erwähnten Band „Historische Volkslieder von 1815-1866“, der zahlreiche scharf anklägerische oder satirische demokratische Volkslieder aus dem Vormärz und von 1848 enthielt, Lieder, die, wie v. Ditfurth im Vorwort schreibt, „nach manchen Richtungen
hin unangenehm berühren“ dürften. Seine im Vormärz gesammelten und 1855 erschienenen „Fränkischen Volkslieder“ waren eine wichtige Quelle für den vorliegenden, seine „Historischen Volkslieder“ für den zweiten Band.

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