Steinitz IV: Was ist ein Volkslied?
Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I, 1954, Seite XXV f)
Ich kann an dieser Stelle auf die in der nichtmarxistischen und der marxistischen Forschung in Deutschland, in der Sowjetunion und vielen anderen Ländern oft behandelte und keineswegs ausdiskutierte Frage: Was ist ein Volkslied? nicht näher eingehen. Ich halte es aber für notwendig – schon um die Nichtaufnahme mancher vielleicht hier erwarteter Lieder zu begründen ~, kurz meine Stellung anzugeben, nicht jedoch, eine eingehende Definition zu geben.
Das Volkslied wird vom werktätigen Volke getragen, das an seiner Gestaltung schöpferisch teilnimmt, mitarbeitet. Ohne diese Mitarbeit gibt es meines Erachtens kein Volkslied. Die Teilnahme oder Mitarbeit drückt sich am untrüglichsten und eindeutigsten in den Varianten aus, im Umsingen, in der ständigen Bereitschaft, ein Lied einer neuen Situation oder neuen Stimmungen entsprechend umzugestalten, ohne sich um die Autorität eines Vorbildes zu kümmern. Durch diese Mitarbeit wird das Unvolkstümliche, Untypische abgeschliffen und kommt der allgemeingültige Charakter der Volksdichtung zum Ausdruck.
Herkunft von Text und Melodie nicht entscheidend
Die Frage der unmittelbaren Entstehung oder Herkunft von Text und Melodie ist dabei nicht entscheidend. Zahlreiche, in Dutzenden von Varianten vorliegende und weitgehend umgestaltete Volkslieder stammen nachweislich von uns bekannten Dichtern; so z. B. das schon angeführte „Ich rat euch, Brüder alle, folgt nicht der Trommel Ton“ von Chr. D. Schubert. Die Anonymität des Verfassers ist also kein Wesenszug des Volksliedes; daß die Verfasser, z. B. der meisten deutschen Volksballaden, uns unbekannt sind, beruht darauf,
daß die Balladen aus sehr alter Zeit stammen, aus der uns überhaupt wenig namentlich bekannte Lieder überliefert sind.
Die Einteilung der Volkslieder in direkte oder primäre, d. h. anonym im Volk entstandene, und indirekte oder sekundäre, d. h. von uns bekannten Dichtern stammende Volkslieder ist also nicht von prinzipieller Bedeutung, da sie nicht auf inneren Wesenszügen der Lieder, sondern auf zufälligen Erscheinungen, wie möglichem Nachweis eines Verfassers, beruht. Zweifellos werden sich bei gründlicherer Beschäftigung und besserer Quellenkenntnis viele für uns heute noch anonyme Lieder als von namentlich bekannten
Verfassern stammend nachweisen lassen. Es wäre ferner falsch, eine grundsätzliche Mauer zwischen dem anonymen werktätigen Volk und dem schöpferischen Einzelnen zu errichten.
Ebensowenig ist die Kollektivität des Verfassers für das Volkslied notwendig und typisch. Wir kennen zwar Fälle, in denen ausdrücklich überliefert wird, das Lied sei von zwei oder mehreren Personen verfaßt; es handelt sich hierbei aber doch um Ausnahmen oder eine kleine Prozentzahl. Die Kollektivität ist eine entscheidende Eigenschaft des Volksliedes. Sie liegt aber nicht so sehr in der Entstehung des Volksliedes, wie vielmehr in seiner Überlieferung, die vom Kollektiv getragen und von ihm gestaltet wird.
Massengesang und Volklied
Allein die Tatsache, daß ein Lied von einem großen Kollektiv, von Massen, gesungen wird, macht es noch nicht zu einem Volkslied. So sind seit der Reformation Choräle, seit Herausbildung der modernen Staaten Nationalhymnen, seit Entstehung der sozialistischen Arbeiterbewegung die „Internationale“ usw. von großen Massen gesungen worden – jedoch ohne von den singenden Kollektiven im Wortlaut (um uns auf diesen zu beschränken) umgestaltet zu werden, sondern mit gleichbleibendem Text. Sie sind also auf Grund des Fehlens dieses wesentlichen Umstandes m. E. keine Volkslieder) und sind daher in diese Sammlung nicht aufgenommen worden. (Es ist offenbar notwendig, für diese, von breiten Kreisen des Volkes gesungenen „Massenlieder“ einen besonderen Terminus zu finden.)
Das Volk ist kreativ
Ein Volkslied entsteht also aus einem Lied beliebiger Herkunft, das von der Gemeinschaft, dem Kollektiv, aufgenommen und dabei im Laufe seiner Entwicklung vom Volke schöpferisch geformt wird. Das von der schöpferischen Teilnahme des Volkes getragene Volkslied drückt in umfassender Weise die geistigen Bedürfnisse des werktätigen Volkes aus. Insbesondere auch – wie könnte es auch anders sein, wenn wir das werktätige Volk als die entscheidende Kraft in der geschichtlichen Entwicklung verstehen! ~ sein Streben
nach einer besseren Zukunft, nach Befreiung von Unterdrückung und Not. Die in diesem Bande enthaltenen Lieder mit ihrer Fülle von in den verschiedenen Fassungen neu auftretenden anklägerischen Strophen und Versen sprechen in dieser Beziehung eine ein-
deutige Sprache; als erste Beispiele verweise ich auf das Bauernlied „Da ist kein Amtmann und kein Schinder“ (Nr. 20), das Arbeiterlied „Der Schachtmeister muß sich schämen, weil er die Leut tut quälen“ (Nr. 124) und das Soldatenlied „O König von Preußen, du großer Potentat“ (Nr. 130).
Im Volkslied – wie in der Volksdichtung überhaupt, insbesondere auch im Märchen und Sprichwort – drückt sich daher die demokratische und fortschrittliche, die aktive und kämpferische Rolle des künstlerischen Schaffens des werktätigen Volkes besonders
deutlich aus. Die Volksdichtung zeigt dokumentarisch, daß das werktätige deutsche Volk auch in den sogenannten ruhigen Zeiten seine Unterdrückung nicht widerspruchslos hinnahm. Die demokratische deutsche Volksdichtung bestätigt somit in überzeugender
Weise W. I. Lenins Charakterisierung der nationalen Kultur eines Volkes: „In jeder nationalen Kultur gibt es, wenn auch unentwickelt, Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn es gibt in jeder Nation eine werktätige und ausgebeutete
Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. Aber in jeder Nation gibt es auch eine bürgerliche (und in der Mehrzahl der Fälle noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in der Form von „Elementen“, sondern als herrschende Kultur.“
Lenin hat in Gesprächen direkt auf die russische Volksdichtung hingewiesen, wobei er an die Tradition der revolutionär-demokratischen Schriftsteller und Kritiker der 1850er Jahre, Belinski, Tschernyschewski und Dobroljubow, anknüpfen konnte, die die
Rekrutenklagen und die Anklagen der um die Beseitigung der Leibeigenschaft kämpfenden Bauern als einen wesentlichen und besonders wertvollen Teil der russischen Volksdichtung erkannt hatten. Die sowjetische Folkloristik hat diese fortschrittliche nationale
Tradition ihrer Wissenschaft weiter entwickelt und in den letzten beiden Jahrzehnten wichtige Arbeiten über die Rolle der Volksdichtung im Kampf der russischen Arbeiter ıınd Bauern vorgelegt.
In Lenins angeführten Worten ist sowohl die schöpferische Fähigkeit der werktätigen Massen klar hervorgehoben wie auch die große Rolle, die die Kultur der herrschenden Klasse eben als herrschende auf die unterdriickten Massen ausübt, erkannt und objektiv
dargestellt. Auch im deutschen Volkslied lassen sich die schöpferischen Fähigkeiten der Werktätigen einerseits, die eigenartigen Verflechtungen und Beziehungen zwischen dem Iiied der werktätigen und der herrschenden Klassen andererseits aufzeigen.
Das Volkslied als ideologische Waffe
Das Volkslied stellt in dem jahrhundertelangen Kampf in Deutschland zwischen leibeigenen und Feudaladel, zwischen Arbeitern und Kapitalisten, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern eine wichtige ideologische Waffe dar, die von beiden Seiten in ihrem
Kampf bewußt angewandt worden ist. „Ich rat euch, Brüder alle, folgt nicht der Trommel Ton“ ist, wie schon erwähnt und in Nr. 168 eingehender dargestellt, ein anschauliches Beispiel dafür, wie die militaristischen Kreise versuchten, ein gegen den Militarismus
gerichtetes, im Volk sehr beliebtes und weit verbreitetes Lied für ihre Zwecke auszunutzen und in seiner Tendenz ins Gegenteil umzubiegen — freilich ohne daß diese neue „Redaktion“ beim Volke Anklang fand.
Das gleiche gilt von dem ungewöhnlich beliebten. in weit über 200 Aufzeichnungen vorliegenden oppositionellen Rekrutenlied „Wie ist doch die Falschheit so groß in der Welt“, bei dem nur ein winziges Grüppchen, etwa 5 Fassungen, einen promonarchistisch-promilitaristischen Inhalt aufweist (s. Nr. 139).
Eine andere Methode war, den demokratischen Liedern ihre schärfsten Zähne auszubrechen und sie zu verharmlosen; das ist, abgesehen von den schon erwähnten fliegenden Blättern, bei vielen unten behandelten oppositionellen Soldatenliedern (z. B. Nr. 139, 145, 168), bei Bauernliedern (Nr. 20), bei Bergarbeiterliedern (Nr. 105) u. a. festzustellen.
Daß der schwere Druck, den die herrschenden Klassen in geistiger Beziehung – durch ihren gewaltigen ideologischen Apparat – seit dem Mittelalter auf die unterdrückten Werktätigen ausübten, nicht ohne Auswirkungen blieb, ist selbstverständlich. Wäre es
anders gewesen, hätten nicht Lehren wie die vom „geduldigen Ausharren auf Erden“, sondern der kämpferische Geist von „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ das gesamte werktätige Volk beherrscht, so hätte die deutsche Geschichte
– wie auch die Geschichte der anderen Völker – schon seit Jahrhunderten einen anderen Verlauf genommen. Es gibt also auch in dem von den Werktätigen getragenen Liedgut Lieder, die objektiv die Interessen der Unterdrücker, nicht die der Werktätigen widerspiegeln. Dies gilt besonders von Soldatenliedern und Bergarbeiterlíedern.
Daß sich ungeachtet des allgemeinen ideologischen Druckes von oben sowie der besonderen Verfolgungen der oppositionellen Lieder dennoch so viele ausgeprägt demokratische, oppoèitionelle Lieder erhalten haben, beweist noch einmal die große Bedeutung,
die sie für das geistige Leben des Volkes besaßen. Obwohl die Zahl derartiger überlieferter Lieder im Verhältnis zur Zahl der überlieferten Volkslieder überhaupt nicht sehr groß ist, ist ihr Gewicht bedeutend. Hinzu kommt, daß der große andere Teil der Volkslieder, insbesondere die der Lebensfreude des Volkes Ausdruck gebenden Lieder, in keiner Weise im Gegensatz zu diesen demokratischen Volksliedern steht.
Die bisherige deutsche Volkskunde hat ihren Forschungsgegenstand, das werktätige Volk, im wesentlichen als ein in feste Traditionen gebundenes, konservatives, daher auch Obrigkeit und Kirche treu ergebenes Wesen gesehen. Dies entspricht aber nicht der historischen Wahrheit.
Der selbstbewußte kämpfende Bauer, wie er im Karsthans der fliegenden Blätter 1521 zum ersten Mal literarisch und 1525 im Bauernkrieg machtvoll in der Geschichte auftritt; der deutsche Bauer, der sich auch in den folgenden Jahrhunderten in unzähligen Bewegungen und Aufständen, die von der Geschichtsforschung noch viel zu wenig untersucht und iiberhaupt noch nicht zusammenfassend dargestellt sind, gegen Leibeigenschaft und Feudalherren empört; der deutsche Bauer, der an der 1848er Bewegung in Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen, Schlesien usw., Wo sich die Bauern gegen die fortdauernden Feudallasten erhoben und die Grundbiícher verbrannten, aktiv teilnahm – dieser sich gegen die schlechten Traditionen der Herren wendende und für Freiheit kämpfende Bauer ist von der bisherigen Volkskunde fast völlig vergessen worden.
Wertvolle Traditionen
Wieviel packender aber ist das um seine Freiheit kämpfende und dabei seine wertvollen Traditionen weitertragende Volk! Unter den vielen Verdiensten John Meiers ist es nicht das letzte, daß er sich mit den revolutionären Liedern aus dem Vormärz und von
1848 beschäftigt und in den von ihm herausgegebenen Band „Volkslieder von der Mosel und Saar“ auch Lieder der streikenden Bergarbeiter von dem großen Streik 1889 aufgenommen hat.
Die Überschätzung des Traditionellen im Volksleben war – insbesondere bei Hans Naumann und seiner Schule – mit einer Unterschätzung und sogar der völligen Negierung des Schöpferischen im werktätigen Volk eng verbunden. John Meier, der anfangs, insbesondere in seiner Arbeit „Kunstlieder im Volksmunde“ (1905), diesem Fehler zu verfallen drohte, hat ihn später überwunden und nicht nur die „bedeutende und hoch zu wertende geistige Tätigkeit“ des Volksschaffens auch beim Umsingen der Volkslieder
gegen Hans Naumann hervorgehoben (Deutsche Forschung. Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Heft 6. Deutsche Volkskunde, 1928, S. 24f.), sondern einen seiner letzten Aufsätze, in der Spamer-Festschrift des Instituts für deutsche Volkskunde). folgendermaßen begonnen:
„Während bei dem allgemeinen Volksliede es sich meist um im Volke selbst entstandene und aus seinem inneren Bedürfnisse geschaffene Lieder handelt, überwiegen bei dem geschichtlichen Liede außerhalb der Umwelt des Volkes absichtsvoll geschaffene Dichtungen, die auf Anregungen von Druckereien fliegender Blätter oder selbständig von literarisch Gebildeten geschaffen sind und erst später vom Volke aufgenommen, verbreitet, umgesungen und volkläufíg werden.“ (in: Beiträge zur sprachlichen Volksüberlieferung. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Volkskunde Bd. 2, Berlin 1953, S. 13.)
Volksmusik: Steinitz Volkslieder
Liederzeit: 1945-1989 Deutschland Ost
Siehe dazu auch:
- Einleitung: Demokratische Volkslieder ()
- Steinitz II: Demokratische Volkslieder ()
- Steinitz III: Volkslieder und Zensur ()
- Steinitz V: Die Volksliedforschung ()
- Steinitz VI: Das Volkslied im Kaiserreich ()
- Steinitz VII: Das andere Volkslied ()
- Steinitz XI: Work in Progress ()