Schlesische Volkslieder: Vorwort von Ernst Richter

Ernst Richter (in: Schlesische Volkslieder, 1842. Vorwort)

Es bleibt dem Unterzeichneten die Melodien in unserer Sammlung betreffend im Ganzen wenig zu bemerken übrig sie werden für sich selbst sprechen Sie leben im Volke und sind sein Eigenthum geworden sie kommen vom Herzen und gehen zum Herzen Einfach in der Tonfolge im Rhythmus und in der Modulation sind sie Jedem verständlich der seinen Geschmack noch nicht gänzlich an modernem Geklingel verdorben hat Dabei bieten sie für den Musiker so viele interessante Züge hinsichtlich der Construction ufw dar daß die Beschäftigung mit denselben eben so angenehm als lehrreich ist Es ist wahrhaft bewundernswerth wie das erfindende oder umbildende Volk welches die Gesetze nach denen der Künstler seine Melodien bildet nicht gekannt sondern nur ohne alle klare Anschauung im Gefühle getragen hat für den jedesmaligen Gefühlsmoment stets das Rechte getroffen hat

Der harmonischen Begleitung find die Melodien wohl fähig aber sie bedürfen im Gegensatze zu den meisten der neuern Compositionen derselben nicht Aus diesem Grunde ist auch nur hier und da eine zweite Stimme beigefügt worden Das Volk bildet wenn zufällige Umfände dies erheischen ohne Lehrmeister und auf der Stelle eine zweite Stimme Tonika und Dominante also die für die Naturtöne angewiesenen Begleiter geben in der Regel den Stoff. Ich habe die von ihren Feldarbeiten am Feierabend zurückkehrenden Landleute oft belauscht und diese meine Ansichten bestätigt gefunden Auffallend war es mir dabei daß man die Lieder fast durchweg sehr hoch anstimmte Männer und Frauenstimmen fangen in der Regel unisono und mischte sich bei manchem Liede eine Begleitung ein so war fiel jederzeit in der oben angegebenen Art und dann treffend

Ein Landmädchen aus der Umgegend Breslau’s ein wahres Volksliederbuch sie wußte mehr als 60 Melodien mit den vollständigen Texten auswendig hat mir eigentlich das Wesen der Volksmelodien erschloffen und heute noch schwebt mir der Eindruck lebendig vor den das erste Lied das sie mir vorsang Nr 3 auf mich machte Meine amtliche Stellung machte es mir möglich die Zöglinge unserer Anstalt für unser Unternehmen zu gewinnen und dadurch gelang es mir ein und daffelbe Lied aus den verschiedensten Gegenden der Provinz zu bekommen Obgleich auf diese Weise nur wenige Melodien bloß einmal die meisten dagegen aus zehn bis zwanzig verschiedenen Orten eingegangen sind so blieb doch die Aufgabe die Melodien wie sie jetzt vorliegen zu notieren keine geringfügige

Ich habe mich mit mancher Melodie Wochenlang herumgetragen ehe ich bei der Lückenhaftigkeit und Verkehrtheit der Aufzeichnung das Richtige ermitteln konnte ja es ist mir dabei schier wie beim Componieren ergangen ich mußte dem günstigen Augenblicke für die Entzifferung der Melodie lange entgegenharren Oft hatte ich dann aber auch die Freude die Melodie nach einer andern Aufzeichnung so zugeschickt zu erhalten wie ich sie entzifferte Gleichwohl muß ich gestehen daß ich unsere Lesarten der Melodien nicht durchweg für die besten zu halten geneigt bin doch konnte und wollte ich aber auch nichts anderes geben als das was ich aus dem Munde des schlesischen Volkes selbst habe

Das Volk aber wie ich durch mannichfaltige Beobachtungen erfahren habe erfindet nicht blos sondern es bildet auch die Melodien um es macht sich dieselben finn und stimmgerecht Wo ich für einen Text heterogene oder auch nur abweichende Sangweilen vorfand hielt ich es für Pflicht diese neben einander zu stellen was Freunden der Volkslieder wohl willkommen sein dürfte Die Melodien so wie die Texte gehören verschiedenen Zeitaltern an z B Nr 38 ist augenscheinlich aus neuerer Zeit doch ist in den Liedern unserer Sammlung die Dur Tonart vorherrschend Melodien in Moll find nur einige und nur in einer Nr 18 erklingt am Anfange ganz im Sinne des Tertes der trübe Moll Dreiklang während alles andere im heitern Dur steht

Zwei Nummern 139 und 283 gewiß sehr alt erinnern in ihren Modulationen an alte Kirchen Tonarten wie bedeutsam wendet sich z B die letztere bei den Worten da trauerte Alles was da was und wie wehmüthig senkt sich die erstere dreimal nach der Harmonie der Dominante bis sie sich im Ueberströmen des Gefühls bei den Worten hat meiner nicht gedacht Dur zuwendet und in die frühere Wehmuth zurückverfinkend in der Haupttonart schließt Wie in unserm Volke ein Kern der Weisheit verborgen liegt der nicht bloß im Sprüchworte als der Weisheit auf den Gaffen sondern im praktischen Leben bei den mannichfaltigsten Veranlaffungen hervortritt so lebt im Volke auch ein Kunstsinn der den Beobachter oft zum Staunen fortreißt

Wie viele Tonkünstler mag es wohl geben die bei aller ihrer Kunst Lieder erklingen laffen welche so mächtig das Volk ergreifen und so tief in des Volkes Herz eindringen daß sie noch nach Jahrhunderten freudig wiederklingen Mir find die Stunden in denen ich dem Sange unters Volkes lauschte und ihm nachdachte höchst genußreich gewesen Möchte es mir gelungen sein die Freunde des Volksgesanges durch diese Sammlung und Aufzeichnung von Melodien einigermaßen befriedigt zu haben Beurtheilern dieser Sammlung welche mit den vielen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens bekannt sind die freundliche Bitte um schonende Beurtheilung wenn es mir bei meinem Streben nicht gelungen sein sollte ihren Ansprüchen und Erwartungen zu genügen

Breslau im November 1842

Ernst Richter

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