Mitteilung über das niederdeutsche Volkslied „Burlala“ (=Peterlein)

Dr. Stefan von Máday, Prag (in: Zentralblatt für Psychoanalyse 1914 Band IV Heft 11/12)

Am 21. Oktober 1913 habe ich einem Konzerte des Liedersängers Robert Kothe beigewohnt. Unter den Liedern, deren Text ich mir bereits vor dem Konzert durchlas, befand sich das niederdeutsche Volkslied „Burlala“, dessen hochdeutsche Übersetzung folgendermassen lautet:

Als Burlala geboren war
Da war er noch sehr klein
Seine Mutter nahm ihn wohl auf den Arm
Und legte ihn in die Wiege so warm
„Deck mich zu!“ sagt er,
„Deck mich zul“ sagt er,
„Deck mich zu!“ sagt Burlala.

Als Burlala zur Schule musste,
Da war er noch so dumm
Er wusste nichts von warum und wie
Verliess sich ganz auf Hans und Franz.
„Sag mir ein!“ sagt er ..

Als Burlala erwachsen war
Ein stattlicher Kerl war er
Sein Haar war dicht am Kopf abgeschoren
Der Kragen reichte ihm bis über die Ohren
„Steht mir gut!“ sagt er …

Als Burlala auf Posten stand
Wohl mit seinem geladenen Gewehr
Da kam ein Kerl aus Frankreich her
Der wollte gern wissen, wo Deutschland wär —
„Ich schiess dich tot!“ sagt er …

Als Burlala gestorben war
Ganz mäuschenstill er lag
Die Eltern standen an seinem Grab
Und wischten sich die Tränen ab.
„Weint doch nicht!“ sagt er ..

Als Burlala zum Himmel kam
Bei Petrus klopfte er an
„Ach Petrus, lieber Petrus mein
Ich möcht nun gern im Himmel sein
Mach mir auf!“ sagt er …

Als Burlala im Himmel war,
Der Herrgott, sprach zu ihm:
„Nun, Burlala, wie gefällt es dir
Hier oben in dem Himmel bei mir?“
„Ach, es geht!“ sagt er …

Beim Lesen gewann ich den Eindruck, dass dieses Lied ein höchst unvollkommenes Kunstwerk sei; ich konnte in den Burlala zugeschriebenen Worten und Taten nichts Einheitliches, für eine bestimmte Menschenart Charakteristisches entdecken. Der Vortragskünstler indessen belehrte mich eines Besseren.

In den beiden ersten Strophen mimte er ein ängstliches Kind, das sich klein macht und die gesamte Umgebung zur Hilfeleistung heranzieht; in der Wiege sagt er: „Deck mich zu! Deck mich zu!“ und in der Schule: „Sag mir ein! Sag mir ein!“  In der 3. Strophe begann er sich zu „fühlen“, und rief dem Publikum, mit naiver Protzigkeit auf seinen grossen Kragen deutend, zu: „Steht mir gut! Steht mir gut!“

In der 4. Strophe droht er dem Feinde mit dem Gewehr: „Ich schiess dich tot! Ich schiess dich tot!“ Dies sprach jedoch der Künstler nicht mit  dem Ernste und der Würde eines mutigen Mannes, auch nicht mit der Ängstlichkeit eines Feiglings, der sich selbst vor seinem Gewehr fürchtet; sondern er vereinigte in seinem Spiel diese beiden Charaktere, so dass das Publikum laut auflachen musste. Die Komik lag eben darin, dass es Kothe gelang, den Feigling, der den Mutigen spielt, darzustellen.

Es ist dies nicht etwa Sublimierung, nein, ganz gemeine Verstellung, die aber so weit unbewusst bleiben kann, dass das Subjekt seine Feigheit — auch sich seihst gegenüber — nicht ohne weiteres zugeben würde. Mit seiner etwas gebückten Haltung, den stechenden Augen, den vorgestreckten Lippen, den durch den nur wenig geöffneten Mund hastig und schneidend hervorgestossenen Worten: ,.Ich schiess dich tot!“, wobei das ,,tot“ in höherer Tonlage und stark betont herausklang, wusste der Künstler den Schwächling, der sich nun dank der Situation — er hat ein Gewehr, sein Gegner offenbar keines — überlegen fühlt und der diese Überlegenheit sogar in grausamer Weise auszunützen bereit ist, meisterhaft darzustellen.

In der 5. Strophe tröstet der tote Burlala seine Eltern. Sie stehen an seinem Grabe und weinen; dies ist eine Situation, in der er, der Tote, im Mittelpunkt des Interesses und der Verehrung steht. Menschen, denen es niemals gegönnt war, soziale Erfolge zu erringen — auch Kinder, die sich zu wenig beachtet fühlen — wünschen deshalb manchmal, ihr eigenes Begräbnis zu sehen. Die ungewohnte Ehrenbezeugung am Grabe bringt Burlala in Verlegenheit, d. h. er fürchtet, durch das Zuviel würde der Ernst der Gefühlsäusserung leiden, und alle Beteiligten — sowohl
die Trauernden als der Betrauerte — würden zum Schluss die allzulange Trauer für unverdient und übertrieben empfinden und die Leider-Stimmung würde in eine Gottseidank-Stimmung übergehen.

So spielt ja auch die vom Militärbegräbnis zurückkehrende Musikkapelle lustige Märsche, um das seelische Gleichgewicht der Soldaten wieder herzustellen. Soll eine traurige Stimmung nachwirken, so darf sie nicht durch allzulange Dauer erschöpft werden. Mit diesen Überlegungen will ich dem Dichter des Burlala, der selbst ein Bauer gewesen sein dürfte, freilich keine psychologischen Spekulationen zugemutet haben; er vermochte sich aber jedenfalls als Menschenkenner in den Charakter und die Lage Burlala’s einzufühlen, als dieser sich tief betrauert sieht und sich ihm der Gedanke aufdrängt: „Nun ist’s aber genug, bald wird’s schon zu viel“, und er von seiner verklärten Höhe als Toter herablassend seinen Eltern winkt: „Weint doch nicht! Weint doch nicht!“

In der 6. Strophe bettelt er bei Petrus um die Aufnahme in den Himmel. In den halb bittend, halb fordernd gesprochenen Worten „Mach mir auf! Mach mir auf“ taucht das Gefühl der Ohnmacht, das in den beiden ersten Strophen ausgedrückt war, wieder auf; anderseits eine gewisse Arroganz, die mit der Erfahrung, dass oft dem Frechen früher geöffnet wird, als dem Bescheidenen, im Einklang steht.

In der letzten Strophe endlich sehen wir Burlala am Ziel seiner Wünsche. Er ist im Himmel, höher geht’s nimmer, und die Sicherheit ist eine vollkommene. Der Herrgott fragt ihn, wie es ihm da gefalle, und nun erfolgt nicht etwa eine Antwort yoll Dankbarkeit und Ergebung. Nein; der Herrgott lässt sich zu ihm herab : das ist eine Gelegenheit, sich sogar dem Herrgott gegenüber überlegen zu zeigen. „Ach, es geht! Ach, es geht!“ sagt er mit einem Bauernstolz, der sich in jeder für ihn günstigen Situation zurechtfindet.

Wir haben somit in Burlala einen Typus kennen gelernt, der eine Abart des Adler’schen „nervösen Charakters“ darstellt. Die Leitlinie seines Lebens ist: Anderen überlegen zu sein. Solange er — als Kind — seine körperliche und geistige Schwäche weder zu kompensieren noch zu verdecken vermag, beherrscht er seine Umgebung in der Weise, dass er seine Schwächen betont und die anderen in seinen Dienst stellt. Sobald er aber etwas geworden ist, sobald er eine Waffe in der Hand oder ein imponierendes Kleidungsstück an hat, beginnt er seine Umgebung zu knechten. Darin, dass er selbst seinem Herrgott gegenüber zugeknöpft ist, zeigt uns der Dichter die Unersättlichkeit des neurotischen Geltungsstrebens.

Noch etwas ist für die Äusserungen Burlala’s charakteristisch: die Unaufrichtigkeit, die Verstellung. Jeder Satz hat einen — psychologischen — Doppelsinn; immer ist ein Unterton da, der dem  Ton widerspricht. So bedeutet z. B. „Weint doch nicht!“ nicht etwa den aufrichtigen Wunsch, seine Eltern mögen sich überhaupt nicht um ihn grämen, sondern es ist eine dankende Bestätigung der seiner Person gezollten Achtung; wie wenn die Frau eines Emporkömmlings den Handkuss einer Dienstperson mit den Worten: „Aber lassen sie das!“ abwehrt, die Hand jedoch zum Küssen hinhält.

Auch das: „Ach, es geht!“ der letzten Strophe ist unaufrichtig; in Wirklichkeit fühlt er sich ausgezeichnet, doch gibt er’s nicht zu, weil er damit die Überlegenheit des Hausherrn eingestehen würde. Er benimmt sich wie ein kluger Hotelgast dem Wirt gegenüber, der sich nach seinem Befinden in seinem Hause erkundigt. Dieser Unaufrichtigkeit entspricht auch die Wiederholung: im Liede wird jeder Satz Burlala’s dreimal gesungen. Ich denke, dass diese Wiederholung vom Dichter nicht bloss aus poetisch- oder musikalisch-technischen Gründen angegeben wurde. Durch die Wiederholung sucht vielmehr Burlala die innere Unsicherheit zu besiegen und die Unwahrheit der Äusserungen vor den anderen zu verdecken. Lügen werden — wie man weiß — oft auffallend laut gesprochen oder öfter wiederholt, damit sie endlich sicher geglaubt werden.

von Dr. Stefan von Máday, k. u. k. Oberleutnant der Reserve
in: Zentralblatt für Psychoanalyse 1914 Band IV Heft 11/12

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