Friedrich Silcher (100 Jahre)
Wiedererwecker des deutschen Volksliedes.
Von Benedikt Widmann (in: Die Gartenlaube, 1889, Heft 29, S. 496–499)
Es gab eine Zeit – und zwar liegt sie gar nicht so weit hinter uns – da Kunst und geselliges Leben vielfach zu steifen Formen entartet waren. Die Dichter und Aesthetiker hatten sich von dem idealen, individuellen Leben hinweggewendet, ihre Blicke ausschließlich auf die Wirklichkeit und ihre nüchternen Forderungen gerichtet; es fehlte ihnen an „Herzenseinfalt und Herzensfrische, an Glaube und Liebe, an einer tieferen, alles beherrschenden Idee.“ Eine Gegenströmung konnte nicht ausbleiben. Sie fand sich, nachdem die französische Revolution ausgebrochen und dann der große Weltkrieg entstanden war. In der traurigen Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands war ihm eine frische Jugend herangewachsen. Und in diese Zeit fällt auch die Gründung einer neuen Dichterschule, die man die „romantische“ zu nennen pflegt, die nach Friedrich Schlegel „das tiefste und innerste Leben der Phantasie“ zum Angelpunkte ihrer Dichtungen machte.
Wenn auch zugestanden werden muß, daß dieses Streben vielfach zur bloßen Phantastik führte, daß das Wunderbare oft ohne vollkommene Gestaltung, ohne gehöriges Eingreifen in dem Kreise, in dem es wirken soll, innerlich schlaff und mit unnöthigem Flitterstaat beladen, in den grellsten Farben auftritt, so muß doch [498] anerkannt werden, daß es Mitglieder jener Schule waren, denen wir die erste wichtige Sammlung von älteren deutschen Liedern verdanken, die das Interesse für die Volkspoesie wieder weckten. Es ist Arnims und Brentanos Hauptverdienst, an „Des Knaben Wunderhorn“ viele verklungene Lieder dem Volke wiedergeschenkt zu haben, Lieder der freiesten kecksten Lebenslust wie der tiefsten Schwermuth, Lieder vom „Scheiden und Meiden“, vom „Lieben und Leiden.“
Im Zusammenhange mit den Romantikern stand die „Gesellschaft der schwäbischen Dichter“, welche das Gesunde an der Romantik auszubilden, sie mit der Gegenwart zu versöhnen und von ihren Einseitigkeiten zu befreien strebten. Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Justinus Kerner und Wilhelm Hauff sind in natürlichem Gefühl, mit gesundem Menschenverstand und Mutterwitz dem Charakter des echten Volksliedes am nächsten gekommen.
Dieser heiße Herzschlag der Romantik hat nun auch in den Tondichtern jener Zeit einen Wiederhall gefunden; er erweckte in diesen eine natürliche Wärme, einen dichterischen Schwung, wie sie vorher bei nahezu gänzlichem Mangel an guten poetischen Stoffen zur Liedkomposition nicht möglich gewesen waren. Abgesehen von den großen Meistern, welche in erhabenen Tonschöpfungen den Geist echter Romantik ergossen, verehren wir neben Ludwig Erk in Friedrich Silcher denjenigen Tonkünstler, der jenen Nationalschatz, das deutsche Volkslied, sowie die Schöpfungen der erwähnten romantischen Sänger dem Volke durch die Macht der Töne zum bleibenden Eigenthum vermittelt hat.
Welcher andere Musiker wäre auch zu dieser Großthat geeigneter gewesen? Ein echter Sohn des Volkes, getragen von schwäbischer Gemüthlichkeit, war er so recht dazu angethan, die Tiefe, Innigkeit und Wahrhaftigkeit der Volkspoesie zu fühlen und zu erkennen. Nur einem solchen Berufenen war es möglich, jene Schmucklosigkeit und Schämigkeit, jene Naturwüchsigkeit und Frische, welche dem Volksliede eigen sind, in den ursprüglichen Tonweisen mit entsprechenden Harmonien wiederzugeben. Auch von diesen gilt, was ein neuerer Dichter, F. G. Weber, an der Volkspoesie rühmt:
„Dein Schmuck ist Einfalt, dich umzieht
Von Salbendüften keine Wolke;
Du wandelst leicht geschürzt, man sieht,
Du bist ein Mädchen aus dem Volke.
Und singst du auch im Königssaal
Von Weisen angestaunt und Thoren,
Doch schweift dein Blick hinab ins Thal
Der Hütte zu, die dich geboren.“
Vor allen Liedern ist es das Liebeslied, dessen Tiefe, Herzenskraft und Frische, Naivetät und Wahrhaftigkeit Silcher sowohl in der Bearbeitung gegebener Melodien, als in den von ihm erfundenen so schön zum Ausdrucke gebracht hat. Wie der Körper mit der Seele, so innig verschmolzen ist seine Harmonie mit der Melodie; diese beschreibt und deklamiert nicht mit Pathos, und ebensowenig hat es jene auf Emphase abgesehen. „Natur und Liebe, Herz und Natur, Traum und Natur“ – diese in eins gebildeten Triebe, diese stets wechselnden Pole der Seele wurzelten tief in dem echt deutschen Gemüthe unseres Sängers der Liebe. Nur auf ein Beispiel seiner eigenen Komposition, auf das seelenvolle Lied „Im Mai“ sei hier hingewiesen. „Natur und Liebe, Herz und Natur“ bilden die Hauptmotive seiner musikalischen Illustration. Wessen Herz geht nicht auf, wenn er mit der ganzen Innigkeit der Seele singt:
„Draus’ ist alles so prächtig,garteDie
Und es ist mir so wohl!“
Welche zarte Empfindung liegt in dem weiteren Motive:
„Mei ganz Herz thut me freue,
Und es blüht mer au drin!“
Mit welch ungesuchter schöner Steigerung giebt er endlich der Sehnsucht:
„Im Mai, im schöne Maie
Han i viel no im Sinn –“
den gewünschten entsprechenden Ausdruck!
„Für jedes Glück, für jeden Schmerz
Weiß er den rechten Ton zu finden.“
Den Herzpunkt aller Empfindungen wie Phantasien bilden Liebe und Treue. Simon Dachs „Aennchen von Tharau“ diene hier als Beispiel. Wie beim Dichter „die Leidenschaft immer das Herrschende bleibt, nie durch ein Beiwort, weder durch Witz, noch durch Phantasiearabesken beeinträchtigt oder gar verwischt wird“, ebensowenig läßt sich unser Tonsetzer zu Stilüberwucherungen hinreißen. Welche Wirkung erzielt er dennoch bei aller Einfachheit in der Melodie und Harmonie des Kehrreims:
„Aennchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“
Nicht weniger zutreffend ist die harmonische Behandlung der Volksmelodien zu den Liedern: „Steh ich in finstrer Mitternacht“, „Soviel Stern’ am Himmel stehen“, „Was hab’ ich denn meinem Feinsliebchen gethan?“ u. a. – An diesen wie an vielen andern Volksliedern läßt sich unzweifelhaft der ursprügliche Einfluß der Weisen erkennen, welche den eigenthümlichen Gefühlen, Empfindungen und Anschauungen der Volkslyrik in der Anlage des Ganzen bis zu einzelnen Wendungen und Worten herab eine eigene Grenze ziehen.
„Das Volkslied ist nämlich fast immer nur Gelegenheitsgedicht; d. h. es bezieht sich auf einen bestimmten Vorfall, auf ein Erlebniß des lebendig davon berührten Dichters selbst wie dessen Umgebung; es setzt daher gleich vieles als bekannt voraus, schweigt darüber oder deutet dasselbe nur kurz an.“ Die Bestimmung und Wirkung der Melodie besteht eben nur darin, das im Worte nur Angedeutete ganz der Gefühlswelt zu erschließen, ohne es doch breit auszumalen.
Die tiefe Schwermuth, welche als Grundstimmung in den Abschiedsliedern liegt, hat Silcher besonders gut getroffen. Es sei hier nur an das „Lebewohl“ aus „Des Knaben Wunderhorn“:
„Morgen muß ich fort von hier
Und muß Abschied nehmen“
erinnert, dessen Melodie und Satz bei aller Einfachheit durch die glückliche Erfindung reizender wehmuthsvoller Motive uns so sehr ansprechen. „Solche Weisen pressen auch aus dem welken Herzen noch einen Blutstropfen aus.“
Daß Silcher auch ein richtiges Verständniß für das alte deutsche Volkslied hatte, bewies er durch die vortreffliche vierstimmige Bearbeitung des „Abschiedsliedes“ aus dem 14. Jahrhundert:
„Ich fahr dahin, wenn es muß sein,
Ich scheid mich von der Liebsten mein …“
Einen Gegensatz zum Abschiedsliede bildet in Hinsicht auf Inhalt, melodische und rhythmische Form das Tanzlied. Bei unsern Minnesängern sind solche Lieder in großer Anzahl unter der Bezeichnung „ein tanzwis“ anzutreffen. Der ursprüngliche Charakter derselben wird als „heiter, scherzhaft, vorwiegend erotisch“ bezeichnet; oft waren es kleine Liebesgeschichten, welche darin besungen wurden. Gerade zu dieser Gattung zählt die Perle unter Silchers musikalischen Erfindungen, die Melodie zu Heines „Lorelei“.
„Diese Ballade ist von so wunderbarer Schönheit, Ursprünglichkeit, solch unnachahmlicher Einfachheit, Wahrheit und volksmäßiger Färbung, daß wir nicht anstehen, sie für eines der schönsten aller Volkslieder zu erklären, die es überhaupt giebt: wer sie komponieren konnte, der war sicherlich ein Liebling der Musen,“ schreibt W. Amman, Silchers Landsmann, in der „Euterpe“ (Jahrgang 1860, S. 152). Kaum ist noch ein Dörfchen in Deutschland zu finden, wo nicht die „Lorelei“ gesungen wird, und dies ist wohl der beste Beweis für die Echtheit der volksthümlichen Stimmung, von der das Lied getragen wird.
Wie gut es Silcher verstand, dieser Gattung der Volkslyrik die freieste, keckste Lebenslust durch seine Bearbeitung einzuhauchen, das läßt uns außer andern Nummern seiner reichen Sammlung das „Oberschwäbische Tanzliedchen“:
„Rosestock, Holderblüth,
Wenn i mei Dienderl sieh,
Lacht mer vor lauter Freud’
S’ Herzerl im Leib“ –
gut gesungen, in reizender Weise fühlen. Auch das „Wanderlied“:
„Ein Sträußchen am Hute, den Stab in der Hand,
Muß ziehen der Wandrer von Lande zu Land,“
und ebenso der mit gesundem Humor spielende „Liebesscherz“:
„Wo a kleins Hüttle steht,
Ist a kleins Gütle …“
tragen so recht die Grundstimmung dieser Art von Liebesliedern.
Endlich sei auch der volksthümlichen Vaterlands- und Soldatenlieder gedacht, denen Silcher durch seine ebenso einfache wie kräftige Harmonisierung den Eingang in Schulen und Gesangvereinen erschlossen hat.
Als treuer Sohn des Vaterlandes nahm Silcher lebhaft Theil an den Leiden und Freuden der Nation. Er kannte und [499] fühlte auch auf diesem Gebiete die ernstere Stimmung der Volkslyrik, von welcher der eingangs erwähnte Dichter singt:
„Du fühlst des Volkes Freud und Pein,
Du kennst sein Sorgen und sein Schaffen;
Du greifst in seine Arbeit ein,
Wenn müde Hände hier erschlaffen.
Und ob es weint, und ob es lacht,
Du theilest mit ihm Lust und Leiden,
Du folgst ihm ins Gewühl der Schlacht
Und hilfst ihm seine Garben schneiden.“
Wie Silcher als Sammler, Gründer und Leiter der „Tübinger Liedertafel“ zur Wiederbelebung und Verbreitung schwäbischer und anderer deutscher Volkslieder gewirkt, wie dadurch sein Name weit über das engere Vaterland hinaus bekannt wurde, – das hat sein Landsmann Dr. Otto Elben in seiner Schrift: „Der volksthümliche deutsche Männergesang“ (2. Auflage, Tübingen 1887) in warmen Worten berichtet, Worte, die ich dem Leser nicht vorenthalten will.
„Die Vereine für den Männergesang,“ heißt es daselbst, „umfaßten ein gutes Theil des Volks und wirkten volksthümlich: was stand ihnen näher, als vom Volke die Schätze seiner Poesie in sich aufzunehmen, das Volkslied auch in den neuen Kreisen volksthümlicher Kunstjünger zu pflegen. Die Männergesangvereine haben diese Aufgabe ergriffen. Sie haben ihren Führer gefunden, der sich die größten Verdienste erworben, der, von keinem seiner vielen Nachfolger erreicht, mit dem glücklichsten Sinne uns die schönsten Blüthen der Volksmusik zugeführt hat: Friedrich Silcher. Im Jahre 1825 erschien das erste Heft seiner Volkslieder, für vier Männerstimmen gesetzt, zwölf Nummern enthaltend, 1826 folgte das zweite, zu Anfang der dreißiger Jahre das dritte und vierte Heft. Nunmehr zählt die ganze Sammlung (12 Hefte, Tübingen bei Laupp) 144 Volkslieder, alle für vierstimmigen Männergesang.
Diese Volkslieder sind so weit verbreitet, als deutscher Gesang reicht: sie erklingen an den Ufern des Susquehanna und Ohio so gut wie im deutschen Vaterland, und als der Kölner Männergesangverein in London (1853 und 1854) dem deutschen Liede die herrlichsten Triumphe bereitete, da standen obenan die Volkslieder, da erregte das schwäbische: ‚Jetzt gang i ans Brünnele‘ etc. etc. den tiefsten Eindruck. Woher solche Erfolge? Ist es bloß, daß Silcher mit seinen Heften den ersten glücklichen Griff gethan? Nein, seiner Verdienste sind mehr, es bedurfte hier nicht allein eines gelehrten fleißigen Sammlers, es bedurfte einer so eigenthümlich sinnigen poetischen Begabung, wie sie in Silcher aufgetreten, um uns unverfälscht die köstlichen Früchte wiedergeben zu können.
Silchers Verdienst ist in mehrfacher Richtung anzuerkennen. Als Sammler hat er die echte Quelle gefunden, nicht vergilbte Handschriften, sondern die lebendig fließende der Volkskreise; er hat die Melodien jenen naiven Klassen des Volks abgelauscht. Wir wüßten von mehr als einem der köstlichsten schwäbischen Volkslieder zu berichten, welche, von den schmucken Dirnen der der Universitätsstadt Tübingen nahen Dörfer, z. B. Niedernau, Bezingen, gesungen, die Aufmerksamkeit des Meisters erregten und aus dem Munde der Mädchen in seine Sammlung übergingen. Die Melodien sind äußerst treu gegeben; der vierstimmige Satz ist klar, einfach, ungekünstelt, ohne gesuchte Harmonien . . .“
Als dieses Werk in seiner 1. Auflage erschien, 1854, lebte Silcher noch. Geboren am 27. Juni 1789 zu Schnaith bei Schorndorf in Württemberg, wo sein Vater Schullehrer war, stand er damals in seinem 66. Lebensjahre und konnte sich der vielen Beweise der Anerkennung seiner großen Verdienste, die ihm sowohl in der Heimath als im Auslande in würdigster Weise zu theil geworden sind, noch erfreuen. Im Jahre 1817 als Musikdirektor an die Universität Tübingen berufen, wirkte er dort 42 Jahre lang für die Musik in Kirchen und Schulen und für den Gesang in freien Vereinen, die er zu hoher Blüthe führte. Am 26. August 1860 schloß der Wiedererwecker des deutschen Volksliedes, der Sänger unserer lieblichsten Weisen, seine Augen; aber die Schätze, die er hinterlassen, haben seinen Namen unsterblich gemacht. Ja, fortleben wird
Der uns diese Liedlein neu gesang, so wol gesungen hat.“
Volksmusik: Biographien
Liederzeit: 1871-1918: Deutsches Kaiserreich
- Silcher, Friedrich(Autor)