Die „schwarze Schmach“ in unserer Tanzmusik
Rassistische Musikkritik gegen "Negermusik" im Türmer, 1925/26
Mathilde v. Leinburg (in: Der Türmer - Deutsche Monatshefte. Die Bergstadt · Band 28, Teil 1, 1925, S. 459)
Siegfried Wagner hat einen Aufruf veröffentlicht, in dem er aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Johann Strauß der tanzenden Jugend ans Herz legt, sich doch der schönen deutschen Tanzmusik des Wieners zu erinnern, statt nach den primitiven Tonfolgen und ohrenverletzenden Rhythmen der verschiedenen Jazz-Musiken zu tanzen. Bei dieser Gelegenheit mag es angebracht erscheinen, doch einmal zu betrachten was Jazz-Musik denn eigentlich ist. Diese uns aus Amerika, wo sie als etwas bodenständig Originelles gewiss Berechtigung hat, importierte Halbmusik, ist aus einer allmähligen Vermischung der Musik der Neger und der Musik der Mestizen-Bevölkerung Mittelamerikas, namentlich der Inseln Kuba und San Domingo, hervor gegangen. Deshalb schließt Richard Wagners deutschfühlender Sohn seinen Aufruf auch sehr richtig mit den Worten: Die Donau liegt uns denn doch näher als Kuba und San Domingo.
Nicht viel bekannt dürfte es sein, dass auch schon lange, bevor diese schwarze Schmach auf unserer deutschen Musik lastete, dass unmusikalische Element der Negerlieder bei uns, wenn auch nicht in die Tanzsäle, dafür aber in die Konzertsäle Eingang gefunden hatte. Der größte Komponist der Tschechen, Anton Dvorak, im Jahre 1891 Direktor des Neu Yorker Konservatoriums geworden, hatte um sich vor den ihm in Amerika bis zum Überdruss den Ohren klingenden burlesken Melodienbrocken der Wilden zu retten, einige dieser von den dazumal noch vernünftigeren Europäern verachteten Naturlaute auf das genialste in zwei seiner Kammermusikwerte verwertet.
Sein F-Dur Streichquartett op. 96 wird in der Musikwelt überhaupt kurzweg bloß als „Das Negerquartett“ bezeichnet, aber auch Dvoraks A-Dur Streichquartett op. 97 weist in seinem Scherzo ein echtes Negermotiv auf, das auf gleichen Viertelnoten aufgebaut von acht Bässen rhythmisch so originell begleitet wird, dass man wirklich meint, die Handpauke eines wilden Negerstammes zu hören.
Der berühmte Kritiker der Neuen Freien Presse Eduard Hanslick hoffte aber schon damals beim ersten Erscheinen dieser Streichquartette, es möchte Dvorak doch wieder gelingen, eine Musik „ohne Transfusion von Negerblut“ zu schaffen. Die moderne europäische Begeisterung für ihre Volksgesänge ist den Schwarzen von jenseits des Ozeans sichtlich zu Kopf gestiegen. So haben sich dort im letzten Jahre gleich zwei Gesellschaften gebildet, die es sich nach dem Vorbilde zivilisierter Nationen zur Aufgabe machen, alle Negerlieder zu sammeln.
Die eine ausschließlich nur aus Schwarzen bestehende Vereinigung, sammelt nur die religiösen Gesänge ihrer Rasse. Übrigens waren schon vor drei Jahrzehnten gelehrte Stimmen laut geworden, die behaupteten, dass die Lieder der Neger in der Hauptsache von aus Schottland stammenden Liedern herrührten. In Amerika hat die Jazz-Musik Eingang selbst in die Oper gefunden. Dort gibt es nicht bloß Jazzband-Tanzmusik und Jazzband-Konzertmusik sondern auch ein wahrhaftiges Jazzband-Opernorchester.
Der jüngste Auswuchs dieses Geschmacks ist eine amerikanische Oper. „Daniel Jazz“ von Louis Grünberg. Der Inhalt ist die biblische Erzählung „Daniel in der Löwengrube“. Da die Oper bloß einen Akt hat, ist in ihr kein Szenenwechsel nötig, der ganze Vorgang spielt in einem Löwengraben. Der Hauptheld „Daniel der Prophet“ ist natürlich ein Neger, aber auch das Publikum muss mitwirken. Ein dringender Aufruf ergeht an jeden Besucher, in den geeigneten Momenten ja auf Löwenart mit zu brüllen.
Mathilde v. Leinburg, in: Der Türmer – Deutsche Monatshefte. Die Bergstadt · Band 28, Teil 1, 1925, S. 459
Volksmusik: Jazz in Deutschland
Liederzeit: 1871-1918: Deutsches Kaiserreich, 1919-1933: Weimarer Republik
Schlagwort: Rassismus und Kolonialismus
Siehe dazu auch:
- „Negerlieder“ angekündigt ()
- Amerikanische „Negerlieder“ (Text von 1929) ()
- Christys Minstrels ()
- Kolonialistischer Musikmarkt um 1900 ()