Vorwort: Die Lieder der Heimat

Arthur Hübner (in: Der Heimatforscher IV, 1926)


Aber man darf nicht übersehen, daß für eine unbefangene Würdigung dessen, was das Volk besitzt, gerade in der Beschränkung auf die Heimat eine Hemmung liegt, die nicht leicht zu überwinden ist. Denn der Begriff Heimat hat für uns einen Affektgehalt wie nicht viele andere, und er gibt von diesem Gehalt ab an alles, was zur Heimat gehört, also auch an ihr Lied. So steht denn notwendig der Heimatforscher dem Liede des Volkes mit einer seelischen Einstellung gegenüber, die nicht viel anders ist, als die eines Romantikers, die zwar aus anderen Quellen entspringt, aber zu ähnlichen Irrtümern führen kann. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die erstaunlichen Fehlurteile, die man bis auf den heutigen Tag immer wieder über das Volkslied, zumal über seine ästhetischen Eigenschaften hört, letztlich darauf zurückzuführen sind, daß bei dem Urteilenden nicht der Kopf, sondern das Herz spricht, daß er Affektwerte und objektive Werte verwechselt.

Generationenlang hat auch die wissenschaftliche Betrachtung des Volksliedes an dieser Verwechslung gelitten. Wenn man so den Heimatforscher hinweisen muß auf das Affektverhältnis, das ihn wie mit dem Liede so mit allen anderen Gegenständen seiner Forschung verbindet und das sein Urteil zu trüben geeignet ist, so bedeutet das natürlich keine Verdächtigung dieses Affektverhältnisses. Im Gegenteil, man kann sich solchen Heimatsinn gar nicht stark und entschieden genug entwickelt denken, auch bei dem Forscher nicht. Aber wenn er die Wahrheit erkennen will, muß er sich bewußt halten, daß gerade auf dem Felde der Heimatforschung die Gefahr, Urteile verschiedener Schichtung zu vermengen, nicht gering ist; denn starke Affektwerte können sich natürlich mit sehr schwachen objektiven Werten verbinden.

Das Volkslied erfreut sich heute ja einer Aufmerksamkeit, wie es sie kaum je gefunden hat. Aber diese Teilnahme ist nicht immer die unvoreingenommene des Forschers, dem es nur darauf ankommt festzustellen, was an dichterischen Äußerungen im Volke vorhanden ist, welcher Art, welchen Ursprungs, welcher Lebensbedingungen es ist. Sondern es ist weithin eine Teilnahme, die in irgendeiner Form zweckbestimmt ist: Man greift zum Volksliede, weil man sich bestätigt fühlen will in seinem Glauben an das Volk, weil man einen Anhalt finden will für seine Liebe zum Volk, weil man nach Mitteln sucht, um das Leben des Volkes aus seinen Quellen zu stärken oder zu heilen, nach Mitteln, um Volks- und Stammesbewußtsein zu schützen und zu fördern, nach Mitteln, um untergehendem oder irgendwie bedrohtem Volkstum konkrete Haltepunkte zu geben, weil man nach Wegen forscht, auf denen überfeinerte oder verbildete Kultur zurücklenken könnte zu Quellen der Erneuerung und Verjüngung.

Niemand wird solchen Formen von Volksliedbetrachtung ihr Recht bestreiten, und mancher mag ihr einen Vorsprung vor der nüchtern-sachlichen des Forschers zusprechen. Aber man muß sich völlig klar darüber sein, daß sich eine solche zweckbestimmte Betrachtung nach doppelter Richtung hin durchaus unterscheidet von der Einstellung, die der Forscher zu gewinnen suchen muß. Erstens geht sie mit einer gewissen Willkür an den Stoff heran, sie scheidet aus dem lebenden Volkslied aus, was notwendig ihren Zweck gefährden müßte, und greift mit Vorliebe zu dem sog. ,,alten“ Volkslied, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wieweit und in welchem Sinne dies alte Volkslied als Lied des Volkes gelten kann.

Und zweitens: sie nimmt Wertungen vorweg, die für wissenschaftliche Betrachtung erst der Prüfung bedürfen. Es bedeutet heute vielleicht noch eine Zumutung an den Heimatfreund, wenn man von ihm verlangt, daß er jeder romantisch-vorbestimmten Betrachtung des Volksliedes entsagen solle; aber er muß sich dieser Forderung bequemen, sofern er aus dem Heimatfreund zum Heimatforscher werden will. Die Heimatforschung hat, gerade wo sie den geistigen Besitz der Heimat zum Gegenstand ihrer Beobachtung macht, als höchstes Ziel die Erkundung heimatlicher Volksart; Heimatforschung ist ein Stück Volkskunde im eigentlichsten Sinn. Die große und tief bedeutsame Wissenschaft der Volkskunde muß aber notwendig auf Irrwege geraten, die sehr gefährlich werden können, wenn ihre Jünger nicht die volle Unbefangenheit des Blicks und des Urteils gewinnen.

(aus: Der Heimatforscher, iV. Band, Hrsg: Walther Schoenichen, Breslau 1926)

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