Amerikanische „Negerlieder“ (Text von 1929)

Ein Literatur-Empfehlung von Anna Siemlen

Anna Siemlen (in: Amerikanische Negerlieder in "Urania" (Band 5, 1929, S. 218))

In über jahrhundertelanger Knechtschaft in den Vereinigten Staaten haben die „Neger“ ihre eigentümlichen Begabung für Musik, Tanz und Gesang lebendig bewahrt. An fremden Einflüssen nahmen sie, geächtet und ausgestoßen wie sie waren, zunächst nur die religiöse Vorstellungs- und Gefühlswelt der puritanischen Sekten an. Ihre ersten Lieder sind daher geistliche Lieder in ihrem eigentümlichen „Niggerenglisch“ und mit wundervollen bewegten Melodien.

Noch heute spricht diese religiöse Welt in ihren Gedichten mit. Seit etwa einem Menschenalter aber erobert sich einerseits die Negermusik der Ragtime und die Jazzband die amerikanisch europäische Welt, und auf der anderen Seite gelingt es einer ganzen Reihe junger Negerdichter, die Welt ihres Erlebens, Fühlens und ihrer Sehnsucht zu gestalten in Liedern und Gedichten von großer Kraft und Zartheit, von starker Anschauung und einer erstaunlichen musikalisch rhythmischen Schönheit und Ursprünglichkeit.

Diese Dichtungen sind durchaus amerikanisch, wie das Leben, das sie spiegeln, und sie sind zugleich von der Leidenschaft und dem Lebenswillen einer südlichen und jungen Rasse erfüllt, die im Begriff ist, sich die Welt amerika europäischer Kultur zu erobern. Eine erste Sammlung dieser Negerlieder ist in deutschen Übersetzungen von Anna Nußbaum herausgegeben.

Wir bringen heute eine noch nicht veröffentlichte Übersetzung der Genossin Kurgass aus dem Werke eines der begabtesten jungen Negerdichter Langston Hughes „The weary blues“. der im nächsten Heft weitere folgen:

Mutter zum Sohn

Ja, Sohn, was ich Dir sage
das Leben war für mich
keine gläserne Treppe

Es hatte Nägel in sich
und Splitter
und aufgerissene Bretter
und Stellen ohne Teppich
ganz kahl
Aber immer
stieg ich aufwärts
erreichte Stockwerke
wand mich um Ecken
Und manchmal
ging ich im Dunkeln
wo es kein Licht gab

Drum Junge
sieh nicht rückwärts
Bleib nicht sitzen auf den Stufen
weil Du findest daß es schwer ist
Es geht noch höher Liebling
und wir sind noch nicht oben

Nein das Leben war für mich
keine gläserne Treppe

Amerikanische Negerlieder, in „Urania“ (Band 5, 1929, S. 218)
von Anna Siemlen

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