Im Gesang vergißt das Kind, das Krieg ist
Hugo Löbmann (in: Deutsche Schulpraxis - Wochenblatt für deutsche Lehrkunst, für Geschichte und Schrifttum der Erziehung und des Unterrichts)
Der Krieg hat eine gewisse Unruhe in den Lehrplan gebracht. Die Verminderung der Lehrer bedingte eine entsprechende Verminderung der Unterrichtsstunden. Es entstanden Hilfslehrpläne. Sie bekunden das Streben, alle Unterrichtsfächer möglichst gleichmäßig zu belasten. Erfreulicherweise ward dabei besondere Rücksicht genommen auf diejenigen Fächer, die bisher nur mit einer oder zwei Wochenstunden bedacht waren. Man ging nicht dazu über, wiewohl die Versuchung hierfür nahelag, diese eine oder wohl gar beide Stunden zu streichen. Man hätte ja annehmen können: ein Fach, das in Friedenszeiten mit „nur“ einer Wochenstunde bedacht worden, oder das „eigentlich“ trotz seiner zwei Wochenstunden „überflüssig“ sei, könne in bedrängten Zeiten ganz in Wegfall kommen. Erfreulicherweise gewährte der Kriegshiifsplan gerade diesen Unterrichtsfächern seinen Schutz. Und das war sicher gut. Zu diesen Unterrichtsfächern gehört auch das Singen. Der Hilfslehrplan beließ das Singen allen Klassen, allen ohne Ausnahme.
Damit bewiesen die beratenden und führenden Kreise eine pädagogische Kenntnis und ein Gerechtigkeitsgefühl, das jede Anerkennung verdient. Wer die Kindesseele auch nur einigermaßen kennt, der weiß, daß Liedsingen dem Kinde ein seelisches Bedürfnis ist. Und daß man dieses Glück dem Kinde in der Schule wohl verkürzt, aber doch nicht ganz genommen hat, das bleibe jenen Schulmännern und Kinderfreunden unvergessen, denen es in die Hand gegeben war, über den Wegfall oder über die Zuteilung dieses Glücks zu entscheiden.
Das Kind leidet durch den Krieg; es leidet besonders schwer durch diesen Krieg. Der Feind will dem deutschen Volke das Schicksal jenes Burenvolkes bereiten, das Tausende von Muttern und Kindern seines Volkes dem grausamen Hungertode in den berüchtigten Konzentrationslagern preisgab, um seine politischen Ziele zu erlangen. Darum leiden unsere Kinder. Aber sie wissen es zu tragen – und mit Gottes Hilfe werden wieder bessere Zeiten kommen. Bis dahin werden Eltern und Kinder, Lehrer und Kinder treu zusammenhalten, aushalten, mit den Kräften haushalten, „arbeiten und nicht verzweifeln“. Zu diesem „Haushalten“ gehört ein richtiges Verteilen der Belastung durch die Arbeit. Auch dem Unterricht gilt diese selbstverständlichste aller Forderungen. Der Hilfslehrplan hält sich glücklicherweise von dem Mißgriffe fern,als hätte die Neueinstellung der Lehr- und Lernstoffe in der Art zu erfolgen, daß man kurzerhand alle „Neben“-Fächer striche und damit die Haupt-Fächer vor Stundenkürzung bewahre.
Der neue Plan umging die Klippe und kürzte allgemein. Auf diese Weise blieb die Zahl der ‚^Nebenfächer“ gewahrt. So kam es, daß der Jugend die Wohltat Singens, des Liedersingens gesichert blieb. Damit hat die beratende und maßgebende Behörde bewiesen, daß sie vor allem eine allgemeine, eine „harmonische“ Ausbildung des Kindes gesichert sehen will. „Harmonisch“ – es ist ein verachtetes Wort geworden. „Harmonische Ausbildung“ – man meint so vielfach, dieses Wort passe so gar wenig in unsere „hellsehend“ gewordene „praktische“ Zeit. Seit der Einfluß des Münchner Schulwesens auch in Norddeutschland sich geltend gemacht hat, ist der Börsenwert des „Praktischen“ stark gestiegen. Jetzt heißt es vielerorts „in der Schule lernen für das Leben“, lernen für den Beruf. Die im Berufsleben sich vollziehende Verengung des Bewußtseins wird jetzt schon in den Jahren des Volksschullebens künstlich herbeigeführt.
Und doch – ob nicht all diese Sondererziehung der werdende Mensch bezahlen muß mit seinem Glück. Je mehr das Lernen danach gewertet wird, was es einst „einbringt“, desto mehr wird der einzelne die Einstellung seines Ich für die Gesamtheit, für das wohl des Einzelnen davon abhängig machen, welchen Vorteil diese Beziehung einbringt. Das Praktischmachen des Unterrichts setzt sich leider nur allzu sicher um in Selbstsucht. Und was Selbstsucht ins Große übersetzt, bedeuten will, das hat gerade unser Deutschland an seinem eigenen Leibe zu spüren bekommen. An diesem furchtbarsten aller Kriege ist „heiliger Egoismus“ schuld. Wenn sich ein Volk unglücklich machen will, dann hat man es nur anzuleiten, recht „praktisch“ denken zu lernen. Das übrige kommt selbst.
Gemessen gerade an unseren Zeitläufen will uns die alte Forderung eines Pestalozzi nach „harmonischer“ Bildung doppelt wertvoll und „praktisch“ erscheinen. Und zu dieser Harmonie der Lehre und Geisteszucht gehört neben der Bildung des Geistes die Vervollkommnung des seelischen Trieblebens nach Seite der Sozialpädagogik. Die Seele des Kindes muß warm gehalten werden, daß ihr Wollen sich einfüge in die Form des höheren Sittengesetzes. Der Zögling muß lernen, daß sich das Leben nicht zusammensetzt wie ein Rechenexempel, das Glück nicht wie die Summe gegebener Posten. Der Zögling muß lernen, daß das Glück unabhängig von äußerem Besitz und rein geistigem Können und Kennen sich einstellt und unabhängig von des Lebens Not aufblüht wie eine Wunderrose. Das Glück läßt sich nicht bannen durch Berechnung und logische Erörterungen.
Das Glück beruht in dem Innewerden der seelischen Übereinstimmung mit den höheren Ideen,für deren Forderung und Pflege der einzelne sich einem höheren Wesen verantwortlich fühlt. Das Wesen dieses Glücks liegt in einem gewissen Vergessen der harten, starren Verhältnisse des wirklichen Lebens. Das Glück sucht den Menschen auf wie ein schöner Traum. Und zu diesem geistigen Ausruhen, zu diesem seelischen Leben jenseits der Grenze der rauhen Wirklichkeit führt den Zögling die Kunst.
Es gab eine Zeit, da hallte der pädagogische Blätterwald wider von dem Geschrei nach „Kunst im Leben des Kindes“. Bei all solchen aufgeregten Zeitumständen, wo irgendeine pädagogische „Richtung“ Mode wird, überkommt uns immer der Gedanke: wie lange wird´s dauern, und eine neue pädagogische Modewelle wird Deutschland überschwemmen. Demgegenüber bleibt es Pflicht des Erziehers, an den alten, bewährten Ansichten und Erfahrungen festzuhalten. Und deren eine besagt, daß der Singunterricht in der Volksschule seinen Wert unter allen Umständen und tur alle Zeiten hat und behält. Es bleibt zu beachten, daß Kunstwerke nur von dem recht gewertet werden können, dem hierzu die Gabe, Kunst zu einpfinden, von der Natur verliehen ward. Deshalb wird es immer Stimmen geben, die geneigt sind, die höhere Einschätzung des Singens als eines Hauptmittels seelischer Bildung als eine Übertreibung hinzustellen. Möchte diese Kunstaußenseiter der Gedanke vor allzu eifrigem Entgegenstemmen zurück halten, daß sie in ihrer Schulzeit vielleicht die Opfer eines ganz oder teilweise verfehlten Erziehungssystems bezüglich der Gesangbildung geworden sind.
Mögen sich aber auch andererseits diejenigen Erzieher, die dafür sorgten, daß das Singen keiner einzigen ihrer mehr als dreißig Schulklassen vorenthalten blieb, belohnt sehen in dem Gedanken, daß sie den Kinder ihrer Schule durch Sicherstellung des Gesanges ein Glück wahrten, das in seiner Wirkung an den Eindruck erinnert, den Religionsstunden erzeugen, wenn diese quellen aus einem Herzen voll Einfalt, Tiefe und Glauben. Es hieße auf dem kleinen Altare der kindlichen Freuden unserer Jugend die Osteerkerze auslöschen, wollte man anordnen, daß Hunderten von Kindern der eigenen Schule das heilige Anrecht auf diesen seelisch bedeutungsvollen Unterricht, wie es das Singen nun einmal darstellt, vorenthalten bleibe. Gerade die harte Gegenwart verlangt nach seelischer Auslösung. Und gerade der Gesang bewirkt sie in seelischer Weise. Man muß nur selbst einmal Hand angelegt haben an dieses edle Waidwerk der Seelen. Hier im Gesange blüht das Gedenken daran, wie „einst“ es war.
Im Gesang vergißt das Kind, das Krieg ist.
Und es soll auch für das Kind Zeiten geben, wo es des Krieges vergessen darf. Hier im Gesang fühlt sich die Seele des Lehrers endlich einmal frei von den Übeln der grauen Sorge. Hier in dem wärmenen Himmelslichte der Kunst fühlt sich seine Seele endlich einmal hinausgehoben über den Druck des Alltags und trinkt sich einmal satt an dem Sonnenblicke edler Kunst.
Darum hineingeführt die so oft frierenden Seelen in das Sonnenglück der Musik. Es kann ja niemand sich fern halten unter denen, die zu Hütern gesetzt sind, von diesem Hirtenamte an den jugendlichen Geistern und Herzen. Wem nur ein Funken echter Kindesliebe schlägt, der wird nicht dem Kinde -und besonders nicht den Kleineren unter den Schulkindern – das Glück vorenthalten wollen, das nun einmal die Musik, diese menschenfreundlichste aller Künste, den Herzen schenkt. „Laßt uns unsern Kindern leben.“ Laßt sie glücklich sein durch Gesang. Glück macht gesund!
Hugo Löbmann , in: Deutsche Schulpraxis – Wochenblatt für deutsche Lehrkunst, für Geschichte und Schrifttum der Erziehung und des Unterrichts , Jg. 1918, Nr. 30, Leipzig, 28. Juli , S. 233 f
Volksmusik: Kriegserziehung im Kaiserreich, Lied und Erster Weltkrieg
Liederzeit: 1914-1918 Erster Weltkrieg
Schlagwort: Schule
Ort: Leipzig
Siehe dazu auch:
- 50. Geburtstag des Kaisers (1909) ()
- Allerhöchste Ordre für Schulpolitik (1890) ()
- Als die Trommel klang Tal und Feld entlang (Kriegspropaganda)
- An die deutschen Kinder (1891) ()
- Anweisung für Schulfeiern Kaiserreich (1888) ()
- Auf auf ihr munteren Kameraden (Kinderlieder)
- Auf denn zum heiligen Krieg (1916) (Kriegslieder)
- Aufruf zur Gründung von Kriegsschulmuseen (1915) ()
- Aus einer Schulfibel (1908) (Kinderreime)
- Aus Haus und Hof sind wir hinausmarschieret (Kriegslieder)
- Berliner Jungen ()
- Besonders schöne deutsche Innigkeit (1915) ()