Krieg und Gesangunterricht

Beitrag in "Die Volksschule" , 14. Jg. 1918

Im „Dresdener Anzeiger“ klagt eine Stimme aus dem Leserkreise: „Wie gerne würden wir nur jetzt ein vaterländisches Lied nach dem andern singen, wenn wir nur eins richtig könnten! Mit der Melodie geht es noch. Aber der Text – da reicht es höchstens bis zur zweiten Strophe. War es nicht eigentlich beschämend, daß, als in den Tagen der Mobilmachung die Reservistenzüge durch die Stadt marschierten, immer und immer wieder fast nichts anderes zu hören war,  als die jetzt nicht einmal zeitgemäße „Wacht am Rhein“, und von ihr auch nur die erste Strophe. Ganz ähnliche Klagen hörten wir vor kurzem aus Österreich herüberschallen…

Nur kein Gedächtnisdrill, heißt es in der modernen Pädagogik. Und was ist die Folge? Es fehlt am eisernen Bestand. Und der Verfasser des Aufsatzes in der „Wiener Zeitung“ behauptet: Daß die Volkslieder von den Soldaten nicht qesungen werden können, ist darauf zurückzuführen, daß die Pflege des Volksliedes in den Schulen seit Jahren zurückgegangen ist. Die Lehrerschaft hat sich mehr dem Kunstgesange und der künstlerischen Betätigung in der Musik zugewendet; das kindlich einfache, einstimmige Volkslied wird verhältnismäßig zu wenig beachtet und in der Schule viel zu selten gesungen.

Es ist nicht wahr, daß   in   den   Schulen die Pflege  des Volksliedes   zurückgegangen ist. Die Lehrpläne der Volks- wie auch höheren Schulen schreiben eine stattliche Anzahl von Liedern vor, die fest eingeprägt werden müssen. Darunter befinden sich fast alle unserer schönsten Volkslieder, die solange Eigentum der Schüler bleiben, als diese die Schule besuchen. Wenn sie nach beendeter Schulzeit wieder verloren gehen, so kann die Schule dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Der Schatz der geübten Volkslieder würde in späteren Jahren auch noch bekannt sein, wenn unsere Jugend ihn öfter wiederholen würde, anstatt ihn unbeachtet beiseite zu legen. Die „Schullieder“ werden im späteren Leben mit einer gewissen Nichtbeachtung und Geringschätzung behandelt.

In einem beachtenswerten Aufsatz im „Dresdener Anzeiger“ hat M. Brethfeld die tieferen Ursachen für die Volksliedarmut dargelegt. Man wird seinen Ausführungen die Zustimmung nicht versagen können. Er führt folgende Gründe an: 1. das infolge der Industrialisierung des Volkes gänzliche Verschwinden des Kinder- und Volksliedgesanges in der Familie, 2. das Überhandnehmen musikalischer Schundliteratur infolge der Veräußerlichung und Verrohung auf so vielen Lebensgebieten – eine Begleiterscheinung unserer hastigen äußeren Entwicklung, die Mechanisierung unserer Familien- und Hausmusik durch mechanische Musikwerke (Grammophon). („Das deutsche Volkslied und das deutsche Volk“. Dresdener Anzeiger 1915. 26. u. 27. August)

Mangelhafte Sachkenntnis verraten auch die Ausführungen über die Methode des Gesangunterrichts. Wenn sich die Lehrerschaft der künstlerischen Betätigung in der Musik zuwendet und Kunstgesangunterricht nimmt, so kann das nur mit Freuden begrüßt werden; der Schulgesangunterricht wird daraus nur Vorteile ziehen. Damit ist aber novh lange nicht bewiesen, daß in der Schule Kunstgesangunterricht getrieben wird. Der Kunstgesangunterricht beschäftigt sich mit der Einzelstimme, die er zu einem virtuosen Instrument heranzubilden bestrebt ist. Der Schulgesangunterricht ist Klassengesang, kann sich also auch nur mit der Masse beschäftigen. Zwar sucht jeder verständige Gesanglehrer soviel als möglich Gelegenheit, die Kinder einzeln singen zu lassen, aber leider verbietet die knappe Zeit, das in größerem Umfange zu tun. Man kann aber auch dann von einem Kunstgesang nicht sprechen, denn es handelt sich bei diesem Einzelgesang gewöhnlich nur um Abstellung größter Fehler, oder um Angewöhnung der richtigen Mund- und Lippenstellung, oder der vorschriftsmäßigen Zungenlage.

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