Gegen Hurrapatriotismus (1910)

SPD-Abgeordneter Henke (in: Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft vom Jahre 16.3.1910)

Wohin wir auch unseren Blick lenken, überall zeigt sich der Patriotismus wie er offfiziell in den Schulen gelehrt wird, als ein hohler Patriotismus Das ist ein Begriff, der entstanden ist zu einer Zeit des Siegesrauschgefühls, wo sich das deutsche Volk freute über die großen Siege, die es im Kampfe errungen hatte. Aber darüber ist unser Volk längst hinaus. Es ist darum an der Zeit, daß mit dem hohlen Begriff dieses Patriotismus aufgeräumt wird, es muß tabula rasa damit gemacht werden. Das sollte doch auch den Liberalismus interessieren, wir haben auch keine Feindschaft gegen den deutschen Kaiser, sondern nur gegen die monarchische Institution.

Aber wir haben auch keine Feindschaft gegen andere Länder und Nationen. Die Arbeiter aller Länder werden gleich uns ausgebeutet, sie haben alle das Bestreben, den Kapitalismus zu bekämpfen. Wir bekämpfen den bürgerlichen Patriotismus wie den Kapitalismus und wollen ihnen ein Ende machen. Aber das scheint in den Köpfen der bürgerlichen Kreise nicht immer übereinzustimmen. Wenn Sie hören, wie der gutdenkende Tolstoi etwa denkt, so denken wir Sozialdemokraten auch. Sie wissen, wie Frankreich es hat mit sich vereinigen können, dem Zar in Frankreich Gegenliebe zu zollen. Hören Sie, was Tolstoi darüber sagt:

Der Patriotismus ist heute die grausame Tradition einer überlebten Periode, die nicht nur kraft des Beharrungsvermögens besteht, sondern auch, weil die Regierungen und leitenden (herrschenden) Klassen, die sich bewußt sind, daß nicht nur ihre Macht, sondern auch ihre Existenz davon abhängt, sie beharrlich durch List und Gewalt in dem Volke erregen und erhalten. Der Patriotismus gleicht heute einem Gerüste, das einst notwendig war, um die Mauern des Gebäudes zu errichten, und das, obwohl es das einzige Hindernis für die Bewohnbarkeit des Hauses bildet, nichtsdestoweniger beibehalten wird, weil seine Existenz gewissen Personen von Nutzen ist. Die Regierungen machen es wie der Zigeuner, der, nachdem er seinem Pferde etwas Pfeffer unter den Schwanz gesteckt und es im Stalle geschlagen hat, es herausgeführt und sich an die Zügel hängend, stellt, als könne er das feurige Tier nur mühsam bändigen

Der Patriotismus in seiner einfachsten, klarsten und unzweifelhaftesten Bedeutung ist nichts anderes als ein Mittel der Herrschenden, ihren Ehrgeiz und ihre Wünsche zu befriedigen, für die Beherrschten bedeutet er die Verzichtleistung auf die menschliche würde, Vernunft, Bewußtsein und die sklavische Unterjochung durch die Machthaber. So ist der Patriotismus überall beschaffen, wo er gepredigt wird. Patriotismus ist Sklaverei. Das sagt wahr, und wenn wir Sozialdemokraten auch nicht so sprechen können, so wissen wir doch, daß wir die Unterjochten sind, was wir uns nicht länger gefallen lassen können. Ich bitte Sie, unsern Antrag anzunehmen.“ (Bravo! bei den Sozialdemokraten).

Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft vom Jahre 1910, Bremen 1910; Sitzung vom 16.3.1910, Nr. 8 der Tagesordnung: Antrag, betreffend die Schulfeiern am Sedantage und zum Geburtstage des Kaisers, S. 178 ff.

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