Wenn der Schüler durch seinen Gesanglehrer richtig angeleitet ist, so sind die Vorgänge folgende: die Einatmung muß möglichst schnell und kräftig geschehen, damit in kürzestem Zeitraum, der den Gesang nur unmerklich unterbrechen darf, eine größere Luftmenge in die Lunge gelangt; es werden dabei hauptsächlich die Atmungsmuskeln des Zwerchfells angeregt; sodann wird behufs Erzeugung der Singlaute die Stimmritze verringert, die Ausatmung erschwert, die Luft bleibt in den Lungen zusammengepreßt und erzeugt eine mechanische Blähung der Lungenbläschen, die von durchaus förderndem Einflusse ist; die Ausatmung erfolgt langsamer und sparsamer wie beim gewöhnlichem Atmen, damit für den zu singenden Absatz ausreichend Luft vorhanden ist, die Kraft, mit der die einzelnen Luftstöße, je nach der Melodie bald lauter, bald leiser und bald länger, bald kürzer schallend, beim Singen durcn die Stimmritze getrieben werden, wird erzeugt und geregelt von den Muskeln des   Brustkorbes.
Diese geregelte, aber nie zu übertreibende Anstrengung der gesamten bei der Tonerzeugung beteiligten Muskulatur ist für die Weitung und Kräftigung der Lungen von größtem Nutzen. Wie stärkend die gwohnheitsmäßige Atemgymnastik des Singens wirkt, kann man an den meist kräftig entwickelten, atemtüchtigen Brustkasten von Berufssängern und -Sängerinnen oft genug sehen.
Bekannter als die körperliche ist die seelische Wirkung des Singens. Jedes noch so schlichte Lied, das auf unseren deutschen Schulen Heimatrecht erworben hat, ist in Wort und Weise ein Kunstgebilde, vermag wie die Kunst überhaupt, den Sinn zu verfeinern, die Seele zu erheben.Daher gibt es für den fühlenden, des Singens nur einigermaßen mächtigen Menschen kaum eine reinere und ergiebigere Quelle der Freude, kaum eine edlere und schönere Form der Gefühlskundgabe als den Gesang. Dies der Schuljugend zum Bewußtsein zu bringen, d.h. die Wirkung des Liedes an sich möglichst vielen Schülern zugänglich zu machen, muß das oberste Ziel des Gesangunterrichtes sein.
Freilich darf dieser auch die formale, lehrhafte Seite nicht vernachlässigen: er muß die begrifflichen Elemente der Tonlehre, soweit sie nötig sind, in seinen Bereich ziehen, muß Treff- und Taktübungen anstellen, das Notenlesen und das Singen nach Noten lehren. Je einsichtsvoller und geschickter ein Gesanglehrer ist, um so rascher wird er über solche mehr äußerlichen Übungen hinwegkommen, um so schneller sich eine tüchtige Schar wohlgeübter Kunstsänger heranbilden. Zu beglückwünschen ist eine Anstalt, der ein solcher trefflicher mehrstimmiger Sängerchor zur Verfügung steht: die betreffenden Sänger erfreuen sich wie ihre Lehrer durch das Singen bedeutender, zum Teil klassischer Tonwerke und verschonen vor allem die Festfeiern ihrer Schule in erhebender und würdiger Weise. Doch darf die Ausbildung verfeinerter musikalischer Einsicht und das Einüben wirklichen Kunstgesanges nicht die alleinige Aufgabe des Gesangunterrichtes sein, wie dies bei den allermeisten höheren Lehranstalten leider noch immer der Fall ist.
Der Gesangunterricht ist meist folgendermaßen geregelt: nachdem in Sexta und Quinta durch die nötigen Elementarübungen, bei denen die Einübung von wirklichen Liedern nicht selten zurücktritt, die Schüler für den Sängerchor vorbereitet worden sind, werden etwa von Quarta ab die Schüler, welche die besten Stimmen und musikalisches Gehör aufweisen, in den gemischten Schülerchor eingereiht. Die weniger guten Sänger, unter denen sich nur vereinzelte völlig unmusikalische Schüler befinden, haben nunmehr überhaupt keine Singstunde   mehr, und mancher „Drückeberger“ gesellt sich noch zu ihnen, der eigentlich in den Schülerchor gehörte, aber seinen Gesanglehrer durch vorgespiegelte Unfähigkeit zu täuschen verstand.
Je größer die Schülerzahl der Anstalt ist, um so mehr sinkt der Prozentsatz der an dem Singen Teilnehmenden, da doch der Chor nur eine bestimmte Anzahl von Sängern, in der Regel 90 – 120, enthalten kann. Was über diese Zahl hinausgeht, ist vom Singen befreit. Auf diese Weise entbehren von Quarta bis Prima viele Schüler, auch wenn sie ganz leidliche Stimmen haben, den heilsamen erzieherischen Einfluß, den regelmaßig betriebenes Singen körperlich wie seelisch auf sie ausüben könnte. Diese Lücke läßt sich nur dadurch ausfüllen, daß neben den besonderen, den feineren Kunstgesang betreibenden mehrstimmigen Chorübungen noch einstimmige   Singübungen eingerichtet werden, indem man entweder die Chorschüler mit den Nichtchorschülern an bestimmten Tagen in der Singstunde vereinigt oder sämtliche Schüler von Quarta bis Prima – ausgenommen die völlig unmusikalischen – in Gesangsabteilungen einteilt, die etwa an einer Stunde in der Woche zu einer einstimmigen Übung zusammenkommen. Letzterer Weg wird sich mehr bei den stark besuchten Anstalten empfehlen.
Bei solchen schlichteren Übungen wird dann lediglich nach Gehör, ohne besondere Belehrung über Takt und Noten, gesungen. Das Bewußtsein, daß es sich hier um etwas handelt, das für das ganze Leben als Brauchkunst nachwirken, dauernde Freude und Erhebung schaffen soll, muß dabei jedem Schüler eingepflanzt werden. Vor allem wird es dabei auf die richtige Auswahl der Lieder ankommen. Es dürfen nur solche Gesänge sein, die zu den Lieblingsliedern des deutschen Volkes gehören, die überall in jedem Gesellschaftskreise gesungen werden. In erster Linie kommt das Volkslied in Betracht: seine Texte sind meist köstliche Proben deutschen Gemütslebens, seine Melodien unantastbare Musik von Gottes Gnaden. Nach dem Muster und im Tone der Volkslieder hat eine Reihe unserer besten Dichter, wie z.B. Goethe , Geibel , Uhland, Scheffel , die herrlichsten Blüten deutscher Wander- und Naturlieder , Heimats- und Vaterlandsgesänge hervorgebracht, so daß und an Volksliedern und volkstümlichen Liedern eine Fülle zur Verfügung steht, deren sich kein anderes   Volk der Erde rühmen kann.
Selten mehr als die erste Strophe
Wie aber steht es heutzutage mit diesem wahrhaft köstlichen Schatze alter und neuer Weisen in unserem Volke?! Die Melodien sind allenfalls bekannt; versucht aber eine fröhliche Gesellschaft ein solches Lied zu singen so kommt man selten über die erste Strophe hinaus; die übrigen Verse sind dem Gedächtnis entfallen, wenn sie überhaupt jemals ernstlich gelernt wurden. So treten dann diese elenden, nichtsnutzigen Gassenhauer, frisch vom Berliner Pflaster eingeführt, an ihre Stelle:“Hulda mit dem Stuhl da“, „die Pflaume am Baume“ und die überaus teilnehmende Frage, ob niemand den kleinen Kohn gesehen hat. Es ist ein wahrer Jammer! Die deutsche Jugenderziehung ist für diesen Mißstand in erster Linie verantwortlich zu machen. Ganz besonders beklagenswert ist die große Gleichgültigkeit, mit der so viele höhere Lehranstalten die Einübung guter Volksweisen betreiben oder vielmehr nicht betreiben. Das Übel wurzelt hauptsächlich in der vernachlässigten Art, die Texte der Lieder einzuprägen. Es gehört viel Zähigkeit und immerwährendes Wiederholen in jeder Klasse dazu, und daran fehlt es meist.
Wenn die oberen Schulbehörden nach dieser Seite hin, ähnlich wie für die Kirchenlieder, bestimmte Vorschriften erlassen würden, so wäre das im Interesse veredelnder Geschmacksbildung nur mit Freuden zu begrüßen.
Melodien im Marschtakt – vaterländisch und wehrfreudig 
Es sei hier kurz das Verfahren der Quedlinburger Guts Muths-Realschule geschildert. Es wurden 12 solche Lieder ausgewählt, deren Melodie Marschtakt hat und sich zum Singen bei  rüstiger Wanderfahrt   besonders eignet; Gesänge mit recht frischem, vaterländischem   und wehrfreudigem Inhalte waren besonders willkommen. Die Einübung der Melodien fällt selbstverständlich dem Gesanglehrer zu; doch darf er für das dauernde Festhalten der Texte nicht verantwortlich gemacht werden. Hierzu kann nur alljährliche   Wiederholung   durch die Lehrer des etwa Deutschen helfen. Im März beginnt die Wiederholung der 12 Kanonlieder, etwa Mitte Mai, wo die Nachmittagsturnmärsche beginnen, muß die Einprägung so weit gefördert sein, daß die Schüler, beim gemeinsamen Singen  wenigstens, den Text völlig beherrschen.

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