Wehrkraft durch Erziehung (1904)

Viel leichter läßt sich eine Schar von tüchtigen Trommlern und Pfeifern jedes Jahr von neuem ausbilden, und der Gesanglehrer der Anstatt kann sich, wie dies bei der Guts Muths-Realschule zu Quedlinburg geschieht, dabei ein Verdienst erwerben. Der Unterricht der Spielleute beginnt sofort nach den Osterferien; der Gesanglehrer stellt ihre Schar zusammen, leitet den Tambourmajor zum energischen Eindrillen an und wählt die einzuübenden Märsche aus. Ist er dazu geschickt, so komponiert er wohl auch, wie dies bei uns in Quedlinburg mit‘ dem „Guts Muths-Marsche“ der Fall war, einen eigenen Schulmarsch. Der engere Zusammenschluß und das nötige Selbstgefühl beim öffentlichen Auftreten läßt sich auch durch gleichmäßige Tracht der Trommelriege nicht unwesentlich heben. Zu   Quedlinburg wird bei den beiden höheren Knabenschulen auf diesen gleichmäßigen, schmucken Anzug ein gewisser Wert gelegt. Die Trommler und Pfeifer, sowie die Fahnenträger und Fahnenbegleiter des Kgl. Gymnasiums tragen weiße Hosen und graue Joppen mit blauem Stehkragen, außerdem blau-weiße Schärpen und silberne Achselstücke. Ebenso gekleidet sind die Abteilungsführer.
Dementsprechend tragen fast alle übrigen Schüler die graue Joppe mit blauem Kragen und graue Hosen, außerdem verschiedenfarbige Klassenmützen. Wo sich diese wohldisziplinierte Gesamtschar unter dem Klange des ihr eigentümlichen „Penälermarsches“ auf der Wanderung zeigt, erregt sie Wohlgefallen bei allen Harzbewohnern und Harzbesuchern. Die Tracht der Spielleute bei der Quedlinburger Guts Muths-Realschule ist der des Gymnasiums nachgebildet, nur daß die Kragen und Mützen rot, die Schärpen rot-weiß sind; die Schüler der Kgl. Präparandenanstalt hingegen tragen grüne Kragen und Mützen.
Der Einwand, daß die Schule Wichtigeres zu tun habe, als sich um solche nebensächlichen Dinge zu kümmern, läßt sich leicht widerlegen. Erstens ist es im Elternhaus wie im Schulleben Pflicht des Jugenderziehers, sich dem Anschauungskreise und, nach Möglichkeit, den Liebhabereien der Schüler anzupassen. Jeder Vater weiß, daß ihn seine Kinder doppelt gern haben, wenn er ihren Beschäftigungen und Spielen liebevolle Anteilnahme, ja sogar Mitwirkung entgegenbringt. Und sollten wir Lehrer nicht auch väterliche Freunde der Schüler sein? Jeder Ordinarius oder Direktor, der sich nicht scheut, zuweilen auf den Feldweg hinauszugen, wo sich die Trommler und Pfeifer im Schweiße ihres Angesichts übend abmühen, und dort mit ermunternden Worten zuschaut, kann der besonderen Zuneigung seiner Jungen sicher sein.
Zweitens ist das Treiben des Trommelkorps keineswegs nur eine knabenhafte Spielerei, wenigstens den Anstalten nicht, denen es mit dem planmäßigen Betriebe der von den Lehrplänen vorgeschriebenen Turnmärsche wirklich Ernst ist. Wer beim Heeresdienst den belebenden, straffe Manneszucht aufrechtererhaltenen Einfluß der Trommeln und Pfeifen an beschwerlichen Marschtagen kennen gelernt hat, wird ohne weiteres zugeben, daß eine unverdrossene, tüchtige Schar jugendlicher Spielleute ihren Kameraden einen ähnlichen Dienst leisten kann in dem Bewußtsein, bei einer segensreichen Sache Mithelfer ihrer Lehrer zu sein.
Noch viel größere Sorgfalt aber ist einem andern, ganz unschätzbar wichtigeren Belebungsmittel der Turnmärsche zu widmen, dem gemeinschaftlichen Singen geeigneter Wanderlieder. Schon das Dessauer Philanthropin, das die neuzeitlichen Schülerfahrten zuerst aufbrachte, hat seit 1774 solche Gesänge eingeübt und sich die Texte, da die heutige Fülle passender Lieder noch nicht vorlag, selbst geschaffen; im Jahrbuch 1902 des Zentral-Ausschusses S. 102 ff. habe ich Näheres darüber berichtet. Das Wanderlied und überhaupt das frische, fröhliche Gesellschaftslied kann nach körperlicher wie nach seelischer Seite hin zu segensreicher Einwirkung gebracht werden. Betrachten wir zunächst die leibliche Beziehung. Jeder, der in die Leibesentwicklung unserer Schuljugend einen Einblick gewonnen hat, weiß, daß etwa vom 13. Lebensjahre ab eine Zeit beginnt, wo Herz und Lunge   etwa sechs Jahre ein ganz besonders   mächtiges Wachstum   zeigen und in dieser Zeit einer planmäßigen Wachstumsanregung geradezu bedürfen.
Diese wird dem Herzen geboten durch die Leibesübungen im Freien, durch Laufen, Springen, Jugendspiel, Wandern, Bergsteigen, Schwimmen, Rudern; dabei fährt auch die Lunge gut, weil ihr jede Herzkräftigung infolge der Wechselwirkung mit zugute kommt. Es gibt aber außerdem eine bisher lange noch nicht genug gewürdigte Übung, durch welche bei nachhaltiger, sorgfältiger Verwendung die Atmungsorgane nicht unwesentlich gekräftigt werden können. Diese Übung ist das Singen. Wie ein Armmuskel, wenn er, z.B. beim Heben von Gewichten, beim Klimmziehen, den Widerstand der an ihm haftenden Last überwinden muß, kräftigen wird, so kann auch die Lunge durch die beim Singen wirkende Widerstandsgymnastik heilsam gestärkt werden.

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