Gib blanker Bruder, gib uns Wein
und laß die Hand besehn
so wollen wir dir prophezein
was sicher wird geschehn
Merk‘ auf, es ist ein hohes Wort
Und liegt viel Wahrheit drin:
Sind vierundzwanzig Stunden fort
So ist ein Tag dahin.
Sobald es Nacht geworden ist
Sind alle Katzen grau
Und wenn der Mann sein‘ Gattin küßt
So küßt er seine Frau.
Ein jedes Paar, das taufen ließ
Kennt sich neun Monden schon;
Und wen man nach dem Vater hieß
Der war des Vaters Sohn.
So oft man viele Trauben liest
gerät die Lese gut
Und wer der Frau Pantoffel küßt
Der hat nicht mehr den Hut.
Der dich um eine Wohltat bat
Der war ein armer Tropf
Und wer den ganzen Ochsen hat
Hat auch den Ochsenkopf.
Darf man nicht hungern so hat man
Zum wenigsten noch Brot
Und wer noch fröhlich singen kann
Ist diesmal noch nicht tot
Wenn in der Nuss das Kernchen fehlt
ist sie vermutlich hohl
Der den das kalte Fieber quält
Befindet sich nicht wohl
Wo aus dem Hähnchen nicht mehr braust
ist oft ein leeres Fass
Und wo ein Dieb was weggemaust
Vermisst man meistens was
Von Schüsseln wo die Speise fehlt
Wird leichtlich keiner satt
Und wer das Land zum Wohnsitz wählt
Der wohnt nicht in der Stadt
Wer vor der Nadelspitze flieht
Bleibt nicht vor Degen stehn
Und wer dem Affen ähnlich sieht
Ist nie besonders schön.
Wer Heu genug im Stalle hat
Dem wird die Kuh nicht mager
Und wer ’ne schöne Schwester hat
Der kriegt bald einen Schwager.
Wenn du zum Spiegel dich bemühst
Zeigt sich der erste Tor
Der zweite, der nicht sichtbar ist
Steht mehrenteils davor
Baust du von Brettern dir ein Haus
So hast du keins von Stein
Und ist der Sängers Liedchen aus
Wird’s wohl zu Ende sein
Text: Johann Ludwig Gericke (1795, Wahrsagerin)
Musik: Ludwig Seidel (1795)
Spottlied auf das Handlesen bzw. Wahrsagerei
Zuerst gedruckt in „Neues gesellschaftliches Liederbuch“, Hamburg, 1795, S 140. Original: „Gib blanke Schwester gib uns Wein“ etc… 16 Strophen, die Melodie von Ludwig Seidel (Büsching und Hagen, Volkslieder, 1807, S 32; „Lieder für Jung und Alt“, Berlin, 1818, S. 21; Simrock: Volkslieder Nr 368. Noch andere Melodien gibts, alle noch wertloser als diese hier (Böhme, in: Volkstümliche Lieder der Deutschen, 1895)