Wär ich gestorben in der Kindheit Tagen
Als ahnungsvoll mein erstes Lied ich sang
Indes im Marseillaisenwirbel-Schlagen
Das Freiheitsjauchzen meines Volkes klang
Wo ich versteckt in meiner stillen Zelle
Begeistrungsvoll den Sieg des Fortschritts pries
Und wo der Neuzeit morgenrote Helle
Ein träumrisch Kind zur Sängrin werden ließ
Wär ich gestorben, da mich der umfangen
Der mir der Liebe Götterkraft gelehrt
Beim ersten Kuß auf meine bleichen Wangen
Beim ersten Liebeswort, das ich gehört
Da schwebten alle Himmel zu mir nieder
Da lächelten mir alle Engel zu
In seinem Herzen fand ich meines wieder
In seinem Arm allein der Sel’gen Ruh
Wär ich gestorben als mit freien Liedern
Mich einst begrüßt ein deutscher Sängerchor
Wo ihre Stimmen mir sich zu verbrüdern
Durch nächt’ge Stille schallten laut empor
Dass ich es fröhlich durfte nun erkennen
Was ich gestrebt mit redlich frommen Sinn
Was ich getan mich Deutschlands wert zu nennen
Die deutsche Jugend nahm es fröhlich hin
Wär ich gestorben in der Töne Wettern
Beim Freudenchor der neunten Symphonie
Wo Menschen werden zu lebend’gen Göttern
In dem Titanensturm der Poesie
Wo Flammenblicke in das Herz mir glühten
Zu gleicher jubelnder Begeisterung
Wo neue Paradiese mich umblühten
Und in den offnen Himmel war ein Sprung
Wär ich gestorben als Du mich, Poete
Von Gottes Gnaden, Schwester hast genannt
Des klagend Lied und dessen freie Rede
In meinem Herzen lautes Echo fand
Und als Du selber lauschtest meinem Sange
Wie einer liebgewordnen Melodie
So lauscht der Strom auf seinem weiten Gange
Der nahen Quelle und dem Strom lauscht sie
Wär ich gestorben – doch es ist vergebens
Nicht in den Stunden reiner Seligkeit
Nicht in der Fülle eines kühnen Strebens
Naht uns der Tod und findet uns bereit
Erst muss vorbei die stolze Stunde rennen
In der wir zweifellos uns selbst geglaubt
Erst muss die heil’ge Flamme niederbrennen
Der Kranz verdorren der uns frisch umlaubt
Erst müssen wir auf Gräbern wandeln lernen
Und unser Herz muß werden selbst ein Grab
Die leuchtendsten von unsres Glückes Sternen
Sie müssen vor uns sinken bleich hinab
Erst wenn wir einsam unter Trümmern stehen
Entlaubte Bäume unter Eis und Schnee
Dann dürfen langsam wir zum Tode gehen
Doch ohne Jubel, ohne Abschiedsweh
Louise Otto-Peters