Es flog ein kleins Waldvögelein

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Es flog ein kleins Waldvögelein

Es flog ein kleins Waldvögelein
aus Himmelsthrone
Es flog zu einer Jungfrau ein
ein Maget frone
Es ist mit ihm geflogen
ein schöner Jüngelin
Er sprach: „Seid unbetrogen
zart zart Jungfrau, merket diese Ding

Er tät die Jungfrau grüßen mit schönen Worten
Er sprach: Ave, du süße, des Himmels Porten!
Du wirst aufgeschlossen, deß freut sich arm und reich
Die Welt hat lang verdrossen: man möcht nit finden dein geleich

Ave, gratia plena, du voller Gnaden-Schrein !
Du wirst den Zorn versöhne, gebärn ein Kindelein

„Soll ich dann werden ein Weibe?“ die edel Jungfrau sprach
„Nein, du solt Jungfrau bleiben, wann du gebärst, vor und nach“

Dominus, Gott der Herre, will bei dir wohnen sein
Die Welt freut sich dein sehre, du Gott’sgebärerin!
Du bist gebenedeiet schöne hoch über alle Weib
Bitt uns dein lieben Sohne, daß sein Genad bei uns beleib!

Do sprach die Jungfrau reine aus ihres Herzen Gier
Gehorsam will ich seine, sein Will gescheh an mir!
Was er von mir begerte, Gott der Schöpfer mein
Des soll er sein gewährte, sein Dienerin will ich allweg sein

So will ich über die Straße!, sprach sich der Jüngling fein
Den Geist will ich hie lassen bei dir, du Jungfrau rein !
Sie satzt sich zu ihm nieder und schloß ihn in ihr Schooß
Beschneid ihm sein Gefieder: ihr beider Freud ja die was groß

Er sprach: ,An dieser Line do will ich singen
Mir liebt die Kaiserinne in allen Dingen
Er sang mit sieben Zungen gar lieblich concordanz
Das merken alt und junge: wer das hie lernt, sein Freud wird ganz

Do klang aus seinem Munde göttlich Demütigkeit
Des tät der Engel künde Maria, der reinen Meid
Göttlich Vernunft klang leise, der könn‘ wir nit entbehrn
Fürsichtigkeit so weise söllen wir alle Christen lehrn

Gotts Weisheit tät erklingen, das was die vierte Stimm
Was tät die fünft herbringen? Göttliche Kunst vernimm!
Göttlicher Rat erhalte do bei der reinen Meid
Sie löst uns Sünder alle, sie ist ein Trost der Christenheit

Die siebente Concordanze, das ist dir göttlich Vorcht
Die do tät der Geist pflanzen. Maria eben horcht
Sie lernt mit hohem Rate das lobelich Gesang
Wer diese Gab nit habe, der tät gar manchen Narrengang

Was wir hie Sünd beginnen, das soll wir beichten schon
Wir müssen all von hinnen, do ist kein Zweifel an
Darum so deicht von Herzen, halt fleißiglich dein Büß
Es ist ein herter Schmerzen, der sich von Gott dort scheiden muß

Maria, edle Jungfrau schon, schenk dir das Liedelein
Bitt dich, du wollest nit Verlan uns Sünder und Sünderein!
Wöllst um dein Kind erwerben, behüt uns vor aller Pein
Daß wir nit ewig sterben und bei dir in dem Himmel sein!

Text und Musik: Verfasser unbekannt
in Deutscher Liederhort III (1894, Nr. 1922 „Mariä Verkündigung“ (Ave Maria gratia plena. Dominus tecum!))
Nibelungenstrophe. Melodie handschriftlich auf einem Einzelblatte, Nr. 1 (Würzburg Univ.-Bibliothek)

  • a) Text aus Val. Holl’s Liederhandschrift, Bl. 159, geschrieben um 1524. Daher Uhland 337 und Hoffmann, Geschichte des deutschen Kirchenliedes Nr. 233.
  • b) Aus der Münchner Handschr. (Cod. germ. 808 Pp 1505 geschrieben.) Abdruck bei WK. Nr. 149, nur in Kleinigkeiten abweichend,
  • c) Aus der Kloster Neuburger Hdschr. 1228. Anfang des 16. Jahrh. s. Mone, Anzeiger 8, 350.
  • d) Offnes Druckblatt in Folio mit Holzschnitten. Gedruckt zu Anfang des 16. Jahrh. auf der Würzb. Univ. Bibl. Einblattdrucke Nr. 1. — Darauf ist auch die Melodie handschriftlich eingetragen.

Böhme schreibt im Liederhort: „Bevor ich diese erlangen konnte, folgerte ich in meinem Altdeutschen Liederbuch Nr. 599, daß sie dieselbe sein müsse, wie: „Die Brünnlein die da fließen„. Und so ists in der Tat. Hier liegt uns eine der ältesten Volksmelodien und die einzige Weise in der ungekürzten Nibelungenstrophe vor.

Liederthema: ,
Liederzeit: vor 1524 : Zeitraum:
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Geschichte dieses Liedes: ,

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Anmerkungen zu "Es flog ein kleins Waldvögelein"

Das Adventlied hielt ich für eine geistliche Umdichtung von einem weltlichen Volksliede des 15. Jahrhunderts, weil die Anklänge in dem geistlichen Textanfange schon genug daran erinnern. Welches Lied liegt aber zu Grunde? Hoffmann hat es nicht nachweisen können und bei seiner Vermutung nur Unwahres gesagt. Ich fand, daß der Anfang hier an das Liebeslied „Ich weiß mir ein kleins Waldvögelein, das ist hübsch und fein“ (Altd. Liederb. 134a), stark erinnert, und Str. 6, 4—8 gar dem Liebeslied entlehnt sind.

Ferner heißts in dem weltlichen Liede „Die Brunnen die da fließen“ (s. II, S. 147): „und der ein lieben bulen hat, der tut wohl manchen affengang“. Daraus hat der geistliche Text (Str. 10) „Narrengang“ gemacht. Der Schluß des Brunnenliedes heißt: „Es ist ein harter Orden, wer seinen bulen meiden muß“ — und das Adventlied hat in Str. 11: „Es ist ein harter Schmerzen, der sich von Gott dort scheiden muß“. Durch solche Entdeckungen wurde ich eben auf die Schlußfolgerung geführt, daß die Melodie des geistlichen auch die des Brunnenliedes sein werde, und meine Vermutung hat sich zu meiner Freude bestätigt.

Somit kann man zwar nicht sagen, das geistliche Adventlied sei geradezu eine Parodie eines ähnlich beginnenden weltlichen Liedes, sondern es ist eine Dichtung, die sich an zwei weltliche an lehnt und von dem einen die Melodie herübernahm.Im 16. und 17. Jahrh, finden wir mehrfach Um- und Nachbildungen des lieblichen geistlichen Volksliedes. Die lateinischen Brocken werden ganz ausgemerzt, aber andere Melodien zugefügt.