Ein Zeisig wars und eine Nachtigall,
Die einst zu gleicher Zeit vor Damons Fenster hingen.
Die Nachtigall fing an, ihr göttlich Lied zu singen,
Und Damons kleinem Sohn gefiel der süße Schall.
»Ach welcher singt von beiden doch so schön?
Den Vogel möcht ich wirklich sehn!«
Der Vater macht ihm diese Freude,
Er nimmt die Vögel gleich herein.
»Hier«, spricht er, »sind sie alle beide;
Doch welcher wird der schöne Sänger sein?
Getraust du dich, mir das zu sagen?«
Der Sohn läßt sich nicht zweimal fragen,
Schnell weist er auf den Zeisig hin:
»Der«, spricht er, »muß es sein, so wahr ich ehrlich bin.
Wie schön und gelb ist sein Gefieder!
Drum singt er auch so schöne Lieder;
Dem andern sieht mans gleich an seinen Federn an,
Daß er nichts Kluges singen kann.«
Sagt, ob man im gemeinen Leben
Nicht oft wie dieser Knabe schließt?
Wem Farb und Kleid ein Ansehn geben,
Der hat Verstand, so dumm er ist.
Stax kömmt, und kaum ist Stax erschienen:
So hält man ihn auch schon für klug.
Warum? Seht nur auf seine Mienen,
Wie vorteilhaft ist jeder Zug!
Ein andrer hat zwar viel Geschicke;
Doch weil die Miene nichts verspricht:
So schließt man, bei dem ersten Blicke,
Aus dem Gesicht, aus der Perücke,
Daß ihm Verstand und Witz gebricht
Text: Christian Fürchtegott Gellert (1746)
in Als der Großvater die Großmutter nahm (1922)