Ausgelitten hast du – ausgerungen

Lotte bei Werthers Grabe

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Ausgelitten hast du – ausgerungen

Ausgelitten hast du – ausgerungen
Armer Jüngling, deinen Todesstreit
Abgeblutet die Beleidigungen,
Und gebüßt für deine Zärtlichkeit!
O warum – O! daß ich dir gefallen!
Hätte nie mein Auge dich erblickt,
Hätte nimmer von den Mädchen allen
Das verlobte Mädchen dich entzückt

Jede Freude, meinen Seelen Friede
Ist dahin, auch ohne Wiederkehr!
Ruh und Glücke sind von mir geschieden,
Und mein Albert liebt mich nun nicht mehr
Einsam weil‘ ich auf der Rasenstelle,
Wo uns oft der späte Mond belauscht,
Jammernd irr‘ ich an der Silberquelle,
Die uns lieblich Wonne zugerauscht;

Bis zum Lager, wo ich träum‘ und leide,
Aengsten Schrecken meine Phantasie;
Blutig wandelst du im Sterbekleide
Mit den Waffen, die ich selbst dir lieh.
Dann erwach ich bebend – und ersticke
Noch den Seufzer, der mir schon entrann,
Bis ich weg von Alberts finstern Blicke
Mich zu deinem Grabe stehlen kann.

Heilige, mit frommen kalten Herzen,
Sehn vorüber und – verdammen dich:
Ich allein, ich fühle deine Schmerzen,
Theures Opfer, und beweine dich!
Werde weinen noch am letzten Tage,
Wenn der Richter unsre Tage wiegt,
Und nun offen auf der furchtbarn Wage
Deine Schuld und deine Liebe liegt:

Dann, wo Lotte jenen süssen Trieben
Gern begegnet, die sie hier verwarf,
Vor den Engeln Ihren Werther lieben,
Und Ihr Albert nicht mehr zürnen darf:
Dann, o! dräng ich zu des Thrones Stufen
Mich an meines Alberts Seite zu,
Rufen wird Er selbst, versöhnet rufen:
Ich vergeb Ihm: O, verschone du!

Und der Richter wird Verschonung winken;
Ruh‘ empfängst du nach der langen Pein,
Und in einer Worten-Laube trinken
Wir die Seligkeit des Himmels ein

Text: Johann Heinrich Freiherr von Reitzenstein – oder Merk ? (1775)
Musik: Martin Ruprecht (1775)

Erschien zuerst 1775 als Einzeldruck mit dem erdichteten Druckort Wahlheim und wurde in dem selben Jahr vielfach nachgedruckt z.B. im Teutschen Merkur . Siehe auch das Lied von Hoffmann von Fallersleben mit gleichem Anfang, das anstatt vergeblicher Liebesmüh die verlorene Revolution besingt.

in Als der Großvater die Großmutter nahm (1885) – Volkstümliche Lieder der Deutschen (1895, Nr. 478)

Liederthema:
Liederzeit: vor 1775 : Zeitraum:
Schlagwort:

CDs und Bücher mit Ausgelitten hast du – ausgerungen:

Anmerkungen zu "Ausgelitten hast du – ausgerungen"

Böhme in „Volkstümliche Lieder der Deutschen„:

„Dieses in der krankhaften Wertherperiode der Goethelitteratur berühmte Lied erschien zuerst als Einzeldruck „Lotte an Werthers Grab. Wahlheim“ dann auf einem fliegenden Blatt (16 Seiten und 1 Blatt Noten) Titel: „Paetus und Arria eine Künstler Romanze Und Lotte bey Werthers Grab eine Elegie Leipzig und Wahlheim 1775“.  Am Ende stehen die Melodien beider Lieder in Kupfer gestochen auf einem Blatt. Die zweite habe ich hier mitgeteilt.

Die Romanze Pätus und Arria hat 37 Strophen, eine Gmoll Melodie, als Dichter ist Merk unterzeichnet. Ihr Anfang heißt:

Zu einer Stadt wo Alles frei wird aus und eingeführet
Und wo wenn’s den Transit bezahlt auch wohl Genie passieret…

Weil hier das Lied von der Lotte mit einem Gedichte von Merk zusammengedruckt erscheint, darf man ziemlich sicher auf gleiche Urheberschaft schließen. Nach der Annahme Hoffmanns von Fallersleben (Volkstümliche Lieder, Nr 77) wäre das Gedicht von Carl Ernst Freiherr v Reitzenstein, Ansbachischer Regierungsrat gedichtet.

Nächst diesem Einzeldruck 1775 mit fingierter Ortsangabe Wahlheim erschien das Lied in demselben Jahr mehrfach nachgedruckt, z B in Schubarts „Deutscher Chronik 1775 S 373“ und in Wielands „Teutschem Merkur 1775 S 139“. Wieder wurde es auf einem fliegenden Blatt um 1800 gedruckt. Fünf schöne neue Lieder das 1, Gedr in diesem Jahr (4 Bll 8) Text gleichlautend wie hier nur ein Wort anders für statt vor in Str 1″

"Ausgelitten hast du – ausgerungen" in diesen Liederbüchern

Neues gesellschaftliches Liederbuch (um 1790) — Böhme, Volkstümliche Lieder der Deutschen (1895,  Nr.478) — M.Ansion-I. Schlaffenberg: Das Wiener Lied von 1778 bis Mozarts Tod (1960, Nr.61) — Vielfach auf Liedflugschriften 1800-1810 –   vgl. Hoffmann-Prahl Nr.106 mit weiteren Hinweisen