Kommentar des Historikers Kurt Holl zu dieser Geschichte in der kommentierten Ausgaben von 1991, herausgegeben vom ROM e.V. Köln:
„Da es über die Rolle des Zigeunermotivs in der Kinderbuchliteratur noch keine Spezialuntersuchungen gibt, beschränken wir uns hier auf einige Anmerkungen zu dem hier zitierten Kapitel. Die Zigeunerfrieda ist eine von 6 Geschichten aus dem Kinderbuch Onkel Knolle, das im Stile des Struwelpeter die Streiche bzw. Laster böser Buben oder Mädchen erzählt, deren schlimmes Ende die kleinen Leserinnen zur Bravheit motivieren soll.
Das Buch erschien in erster Auflage 1910 in Donauwörth/Bay. und es ist nicht verwunderlich, daß sich der Autor offenbar die erwünschte Bravheit der Kinder am besten als Einordnung in eine vormilitärische Schützentruppe vorstellen kann, die hinter einem Generalissimus im Gleichschritt marschiert. [..] Daß die Kinderbuchliteratur im Wilhelminismus nationalisti-sche bzw. militaristische Züge bekommt, ist bekannt.
Es scheint, als ob das Zigeunermotiv in diesem Zusammenhang wieder verstärkt aufgenommen wurde. Nach einer Mitteilung von Prof. Theodor Brüggemann, dem Gründer der Kölner Forschungsstelle für Kinder- und Jugendbuchliteratur an der Universität Köln, war nämlich noch um 1880 in der Neuauflage eines weitverbreiteten deutschen Kinderbuchs eine Zigeunergeschichte als diskriminierend entfernt worden.
Es handelt sich um das Kinderbuch Alwin und Theodor von Jakobs, zuerst erschienen 1805/7. In der Neuauflage von 1880 bemerkte der Herausgeber: »Zur Weglassung der Erzählung Der Fischerknabe, behandelnd die Entführung eines Knaben durch Zigeuner, wurde ich veranlaßt durch die Erwägung, daß derlei Vorfälle stets zu den Seltenheiten gehört haben und gegenwärtig als gänzlich ausgeschlossen zu betrachten sind, daß aber der Glaube daran im Volke immer noch lebendig ist und durch die schlichte Erzählung des glaubwürdigen Jakobs in schändlicher Weise neue Nahrung erhalten würde.«
Man sieht: Rassismus ist keine naturwüchsige Strömung, sondern ein immer wieder eingesetztes Stimulanz, für dessen Auftreten oder Abbau z.B. Autoren, Verleger, Buchhändler verantwortlich sind. Und es ist kein Zufall, wenn das Motiv 1910 wieder auftritt und auch bis zur letzten Auflage des Onkel Knolle im Jahre 1960 erhalten bleibt:
Wie in vielen anderen Bereichen war eben auch hier 1945 kein Kontinuitätsbruch. Der Kinderraub-Vorwurf gehört übrigens zu den ältesten Bestandteilen von Gruppendiskriminierungen: die Römer unterstellten es den Christen, die siegreichen Christen später ihren Häretikern und den Juden. Ist der Verdacht erst in der Welt, genügt oft ein einziger Vorfall, damit sich das Vorurteil als empirisch bestätigtes Urteil über die Gesamtgruppe ausweisen kann.
Die Methode bundesdeutscher Polizeijournalisten, bei Straftaten einzelner die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder bestimmten nationalen Gruppe zu erwähnen, wird trotz ihrer klaren rassistischen Tendenz von Lokalredaktionen immer noch gedeckt.
Die Zeichnungen stammen von Karl Pommerhanz, einem der populärsten Illustratoren des 19. Jahrhunderts. Er hat vor allem in den »Münchner Bilderbogen«, die für wenige Pfennige zu haben waren, mit meist derben Bildern, Phantasie und Urteil zahlloser Kinder geprägt: Der »schwarze Mann« mit dem man den bösen Kindern droht, erhält durch Pommerhanz die Gestalt der Zigeuner; ob freilich dieser pädagogisch wertvolle Popanz seine Funktion erfüllt, kann man gerade angesichts der Bilder Nachwort bezweifeln: entführt aus den elterlicher Gewaltverhältnissen in die Ferne, um dann Star in der Manege zu werden, das strahlt noch weit mehr aus, als den Reiz des Verbotenen.
Der Verein Rom e.V. dankt Günter Wallraff, daß er uns auf das Kinderbuch aufmerksam machte und es zur Verfügung stellte.“
Der Historiker Kurt Holl weist außerdem darauf hin, daß es in diesem Buch besonders um Arbeitsdisziplin und die Eliminierung der Bettler, Vagabunden, Landstreicher, Diebe und Tagediebe geht, „wie es Marx im 24. Kapitel des Kapitals (Bd.I) eindringlich beschrieben hat. Der Durchsetzung der Arbeitsdisziplin mit Peitschen, Galgen und Arbeitshäusern entspricht ein Prozeß der Internalisierung, der die neue Moral zunächst über religiöse Erziehung, später über bürgerliche Pädagogik (Aufklärung) in Hirne, Herzen und Leib einbrennt. Ein gängiger Topos der entstehenden bürgerlichen Kinderbuchliteratur wird die Warnung vor den gefährlichen Zigeunern, die fast schon zur systematischen Gegenwelt bürgerlichen Lebens stilisiert werden, wo Seßhaftigkeit gleichbedeutend mit der Einbindung in den territorialen Nationalstaat ist.“