Schlesische Volkslieder (1842): Vorwort

Hoffmann von Fallersleben (in: Schlesische Volkslieder, 1842. Vorwort)

Im Sommer 1836 besuchte ich einen Freund auf dem Lande. Ich hörte gegen Abend die Grasmädchen singen. Ich forschte nach. Sie sangen Volkslieder, die mir des Sammelns wert schienen. Ich erhielt nachher von der Hand eines dieser Mädchen Aufzeichnungen und faßte nun den Entschluß in Schlesien weiter nach Volksliedern zu suchen. Einige Jahre später gewann ich die Überzeugung, daß Schlesien wirklich noch eine unbenutzte und ergiebige Fundgrube für das deutsche Volkslied sei. Mancher glückliche Fund und die eifrige Unterstützung einiger Freunde führten mich auf den Gedanken, eine Sammlung schlesischer Volkslieder aus dem Munde des Volkes zu veranstalten.

Ich verband mich zu diesem Zwecke mit meinem Freunde Richter Wir theilten uns in die Arbeit ihm fiel der musicalische Theil mir das Uebrige zu Im Januar 1839 machte ich in den Breslauer Zeitungen auf unser Unternehmen aufmerksam Zu Ende des Jahres bat ich in unser beider Namen die Freunde des Volksgesangs uns mit Beiträgen zu unterstützen Um ihnen deutlich zu machen was für eine Art Lieder wir suchten fügte ich ein großes Verzeichniß von Volksliederanfängen hinzu Unsere Bitte blieb nicht ganz erfolglos doch wären wir auf diesem Wege niemals zu einem sonderlichen Ergebniffe gelangt wenn wir nicht einen andern eingeschlagen hätten

Richter suchte die Zöglinge des hiesigen evangelischen Schullehrerseminars für unser Unternehmen zu gewinnen und wußte sie auf das aufmerksam zu machen worauf es hier eigentlich ankomme Wir erhielten gleich nach dem ersten Ferienausfluge der Seminaristen eine große Ausbeute Terte und Melodien aus den verschiedensten Gegenden Auf ähnliche Weise wie Richter wußte uns Herr Oberlehrer Karow I durch die Bunzlauer Seminaristen viele vortreffliche Beiträge zu verschaffen Da wir selbst nur in Breslau und den nächsten Umgebungen sammeln konnten so mußten wir anderswo uns auf die Unterstützung unserer Freunde und Bekannten verlaffen Der gute Wille war nirgend zu verkennen man sendete uns Terte und Melodien in großer Anzahl leider aber oft solche die gar nicht für unsere Zwecke paßten Viele Sammler wußten gar nicht worauf es ankam sie schickten was sie unter dem Volke gehört hatten Deshalb fühlte ich mich veranlaßt näher das zu bezeichnen was wir wünschten

Dies geschah denn am 15 Juni 1840 in beiden hiesigen Zeitungen und ich wiederhole es jetzt wieder da wir die Absicht haben unsere Sammlung gelegentlich fortzusetzen Mit Operntexten und Liedern namhafter zum Teil noch lebender Dichter ist uns durchaus nichts gedient. Eben so wenig gehören zu unserm Zwecke mundartliche Gedichte, denn außer dem Bruder Malcher und dem Weihnachtsliede O Freda über Freda und etwa drei vier anderen dürfte sich wohl nicht leicht ein ursprünglich mundartliches Volkslied in Schlesien finden.

Wie das Volk in seinen Liedern überall durch eine edlere und höhere Gefühls und Anschauungsweise sich aus der gemeinen Wirklichkeit zu erheben trachtet lieber in einer weitentrückten Vergangenheit als in feinen dermaligen Zuständen verweilt lieber mit Königen Markgrafen und Rittern als mit feines Gleichen verkehrt feiner wollenen Röcke und kattunenen Jacken nicht gedenkt sondern Alles in Sammet und Seide kleidet und mit Gold und Perlen schmückt ja sogar die alltäglichen Genüffe Brot und Kartoffeln Waffer Schnaps und Bier in Weißbrot Wildpret und Fische und kühlen Wein verwandelt so sucht es auch in eben diesen Liedern sich feiner gemeinen Sprache zu entäußern

Hochdeutsch und Poetisch

Das Volk singt hier wie überall in Deutschland mit wenigen Ausnahmen hochdeutsch Das Volk ist viel poetischer als diejenigen Poeten die in einer bestimmten Mundart Verse machen und wenn sie alle platten Volksausdrücke alle verdorbenen und ungeschlachten Eigenheiten der Mundart angebracht haben glauben können das seien die eigentlichen wahren Volkslieder

Diejenigen Herren welche den besten Willen haben unser Unternehmen zu unterstützen aber noch nicht klar geworden sind über das worauf es dabei ankommt machen wir auf einige äußere Kennzeichen des eigentlichen Volksliedes aufmerksam

  1. Die metrische Form des Volksliedes ist in der Regel sehr vernachlässigt die einzelnen Strophen eines und desselben Liedes sind nicht immer von gleichmäßiger Länge was nur die Melodie ausgleicht eben so überschreiten oft einzelne Verse auf dem Papiere das gewöhnliche Maß was ebenfalls nur die Sänger im Vortrage wieder gut zu machen wifen
  2. In den Reimen herrscht eben fo viel Aehnlichkeit als Gleichklang die Grenzen des Reimes die bei einem strengen kunstgerechten Dichter sehr beschränkt sind scheinen sich im Volksliede ins Weite zu verlieren an die Stelle der Affonanzen Gang Hand fehen reden Liebe Spiele hart fast tritt oft nur etwas Affonanzenartiges z B grün fchön
  3. Oft wiederkehrende charakteristische Beiwörter das rothe Gold der grüne Wald die grüne Heide das grüne Gras das weite breite Feld das tiefe Thal die breite Linde der junge Knabe das schwarzbraune Mägdelein die schwarzbraunen Aeugelein der kühle Wein ufw
  4. Lieblingsredensarten z B Und ais der helle Tag anbrach Und als es kam an den dritten Tag Und als die sieben Jahr um waren In der Nacht in der Nacht wol mitten in der Nacht ufw Ganz besonders willkommen find uns romanzenartige Lieder sie fangen fich beinahe alle mit Es an z B Es war Es hatte Es kam Es ging Es fand Es ritt Es fuhr Es trieb Es blies Es schlief Es waren einmal Es fanden ufw

Auf diesen Artikel erfolgten schon damals mehrere vortreffliche Beiträge und wir hegen den Wunsch daß uns nun auch noch künftig theils bessere Texte als die von uns mitgetheilten theils bisher unbekannte schöne Volkslieder zugehen mögen Den bisherigen Beförderern unserer Sammlung sagen wir unsern herzlichen Dank es sei uns vergönnt ihre Namen öffentlich zu nennen

Dr Bellmann 63 Lieder Schullehrer JG Fischer in Grabig bei Klopschen 128 L Ordinarius Haupt in Görlitz Cantor Jacob in Konradsdorf bei Hainau 300 L Oberlehrer Karow I in Bunzlau Eduard Kießling Fabrikant in Eichberg am Bober Candidat SH Klein in Striese Polizeirath Köhler in Görlitz Adjuvant Lammel in Bleichwitz Candidat W Meißner bei Oppeln Prof Mosch in Warmbrunn Cantor Niepel in Köben Dr Th Paur in Breslau Schullehrer Peukert in Pawelau Graf Reichenbach auf Waltdorf Candidat Adolf Rösler in Görlitz Kaplan Rupprecht in Reinersdorf bei Landeck 46 L Pfarrer Schück in Margreth Dr E Sommer in Berlin Pastor Wachler in Wohlau Cantor Zimmer in Wohlau Starb als Privatdocent an der Universität Breslau den 6 Aug 1840
Aus dem Breslauer und Bunzlauer Schullehrer Seminar

Bretzel Dittrich Kr Steinau Fluche Großläswitz Gamke E Garbe Wilhelminenort Gringer Günther Großburg F Jäkel Strehlen Katfcher Kr Strehlen W Köhler Kühnel Krummendorf Linke Liegnitzer Gegend Menzel Neukirch bei Schönau Pathe Liegnitz Riedel Rupke Strien Schlawe Glogauer Gegend Scholz Rosen Schulz Corenz Seidelmann Ohlau Stephan Koblau Thiel Oelser Gegend Tietsch Tilgner Deutschhammer Viol Vielgut bei Oels Völkel Kapsdorf bei Zobten Wätzoldt Strehlen Walter Großfaul Wulle Huffinetz

Ueber die Art und Weise wie ich die uns zugekommenen Terte benutzt habe giebt das Buch selbst Rechenschaft Die Vergleichungen mit Volksliedern des Auslandes und die Hinweisungen auf andere und ältere Terte werden dem Freunde und Forscher der Volkspoesie willkommen sein Ueber die Melodien wird mein Freund Richter noch einige Worte hinzufügen

Breslau den 1 Nov 1842, unterzeichnet: Hoffmann von Fallersleben

Siehe dazu auch:

Volksmusik nach Themen

Biographien - Gesang in der Schule - Jazz in Deutschland - Kriegserziehung im Kaiserreich - Kriegslieder - Lied und Erster Weltkrieg - Linktipps - Neuigkeiten - Sedanfeiern - Steinitz Volkslieder - Volkserotik und Pflanzenwelt - Volkslied - Volkslied-Forschung - Verschiedenes - Volksliedbücher - Volkslieder - Volkslieder und ihre Geschichte - Volksmusik Praxis - Weitere Musikseiten - Zeitgeschehen -